Marc Hill, Solidarität
Marc Hill © privat, Zeichnung MiG

Solidarität in der Corona-Krise

Optimismus, solidarische Städte und Fluchtmigration

COVID-19 lässt in Zeiten der Krise Solidaritäten besonders hervortreten. Auch Expert*innen blicken in Teilen optimistisch in eine Welt nach der Pandemie. Doch wie passen die aktuelle EU-Abschottung sowie die Segregation Geflüchteter in Lagern mit Solidaritäten in der Corona-Krise zusammen?

Von und Donnerstag, 26.03.2020, 5:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 26.03.2020, 12:38 Uhr Lesedauer: 9 Minuten  |  

Solidarität tritt besonders deutlich in Krisenzeiten hervor. Die Reaktionsweisen auf die Ausbreitung eines neuartigen Virus, welcher weder an nationalstaatlichen Grenzen noch an feinen Statusunterschieden Halt macht und ein globales Risiko für die Menschheit darstellt, ist dafür ein Paradebeispiel. Aktuell ist das flächendeckende Gefährdungspotenzial von SARS-CoV-2 (kurz genannt COVID-19) für das Leben der Menschen auf der ganzen Welt als „Corona-Krise“ oder „Corona-Pandemie“ in aller Munde. Die von dem Virus ausgehenden Risiken für die Gesundheit und die gesellschaftlichen Funktionssysteme bestimmen seit spätestens März 2020 den Alltag vieler Menschen und öffentliche Debatten.

In unserem Beitrag spüren wir den Reaktionsweisen auf die Corona-Pandemie aus der Perspektive von Solidarität nach. Hierbei zeigen sich – so unsere These – alte und neue soziale Grenzziehungen in einer Gesellschaft, die angesichts von COVID-19 einerseits Zusammenhalt proklamiert, andererseits aber jene ausgrenzt, die im Diskurs als „Geflüchtete“ repräsentiert sind.

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Solidarische Allianzen in Krisenseiten

Solidarität verstehen wir als Bewegung unter sich wandelenden gesellschaftlichen Bedingungen, die mit Ambivalenzen einhergeht: So hat sie einerseits das Potential, machtreflexiv auf gesellschaftliche Schieflagen aufmerksam zu machen; andererseits kann sie soziale Ungleichheiten genauso kaschieren, wenn sie sich zu einer generalisierenden Wohlfühlformel verkürzt. Mithin werden in diesem Beitrag Ideen für die theoretische und lebenspraktische Konzeption eines Solidaritätsbegriffes entfaltet und anhand der Corona-Krise kritisch diskutiert. Hierzu liegen bereits eine Reihe an solidarischen Konzepten vor, wie etwa die weltweit existierenden Städte, die sich offiziell zu solidarischen Städten erklärt haben. Vorauseilend ist noch zu sagen, dass dieser Beitrag in seiner Denkhaltung in der Sache optimistisch angelegt ist, wenngleich die pragmatische Formel „Alles wird gut“ nicht darüber hinwegtäuschen soll, dass Paradoxien von aufbegehrenden Solidaritäten einerseits und gleichzeitigen Entsolidarisierungstendenzen andererseits unseres Erachtens wissenschaftlich eingefangen werden müssen. Mit dieser Vorgehensweise wollen wir eine aktuelle Krisensituation aufgreifen und gleichzeitig offenlegen, welche solidarischen Formen des Zusammenlebens und welche Möglichkeitsräume in der kreativen Alltagspraxis von Menschen im Umgang mit globalen Herausforderungen entstehen können.

Solidarität und COVID-19

Das Thema der Solidarität ist in hohem Maße in Bewegung geraten. Eine globale Krise wie COVID-19 bietet Anlass, über die aktuellen Entwicklungen und Paradoxien solidarischen Handelns ausgiebig nachzudenken. Exemplarisch spricht der bekannte Soziologe Franco Ferrarotti (93 Jahre) sympathischer-, aber auch überraschenderweise im Zuge von COVID-19 gar von der Wiederentdeckung von Solidarität als einem „wundervollen Wert“ und einer zu erwartenden „Explosion an Lebensfreude“ nach der Corona-Krise. Dies mag in Teilen stimmen und sicherlich ist zu erwarten, dass der Wert von realen Sozialkontakten auf neue und bejahende Weise geschätzt wird, allerdings gilt es, die Solidarität nicht auf dem Altar von Zweckoptimismus in Krisenzeiten vorschnell zu opfern. Es ist der Notlage geschuldet und dies ist durchaus selbstkritisch zu verstehen, dass sich die Ereignisse überschlagen und schwer bzw. vielfältig eingeordnet werden können.

Wir und Nicht-Wir?

Die Paradoxie von Solidarität liegt im Zusammenschluss der einen und mangelnder Solidarität mit den anderen begründet. Wer wird als „Wir“ der solidarischen Community gezeichnet, wer als vermeintlich „andere*r“ hiervon ausgeschlossen? Einerseits entdecken die verschiedensten Akteur*innen aus Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft die Bedeutsamkeit von Solidarität als lebenserweckende Ressource in Europa wieder, was in Corona-Zeiten paradoxerweise vor allem „Privat-Quarantäne“, „Kontaktsperre“ oder „Ausgehverbot“ bedeutet. Andererseits werden Geflüchtete in Geflüchtetenlagern weltweit marginalisiert und auf politischer Seite wird der Außenschutz an den Grenzen der Europäischen Union (EU) intensiviert. Es scheint, als seien die Deutungen, welche derzeit in der Corona-Krise existieren, noch längst nicht auserzählt. Sie verlangen in vielerlei Hinsicht danach, kritisch-reflexiv durchdacht zu werden. Wie hängen der Schutz der einen, Appelle an die Solidarität der Bevölkerung in Deutschland, Österreich und anderen Ländern mit der bisher nicht veränderten Lage geflüchteter Menschen in Geflüchtetenlagern, die keinen Sicherheitsabstand zu anderen halten können, eng an eng zusammenleben müssen und kaum bis keine medizinische und soziale Versorgung in Anspruch nehmen können, zusammen? Ebenso wirft die Medizinhistorikerin Elisabeth Dietrich-Daum in der aktuellen Lage die Frage auf, warum die Weltgesundheitsorganisation (WHO) momentan zurückhaltend auf die Corona-Pandemie reagiert und nicht selbstbewusst eine auf globaler Ebene abgestimmte Strategie einfordert, sodass eine Ausbreitung der Pandemie auch in bisher nur marginal diskutierten Kontexten – etwa in Geflüchtetenlagern – verhindert wird. Zugleich ist bedeutsam, nicht eurozentrisch nur auf europäische Länder und Regionen und solche Länder und Regionen mit hohen registrierten Fallzahlen zu schauen, sondern auf alle Länder und Regionen, auch jene, welchen das medizinische Equipment fehlt, um das Virus überhaupt nachweisen zu können und damit eben nicht in die Statistik einzugehen. Angesichts globaler Ungleichheiten im Gesundheits- und Sozialsystem gilt es, eine transnationale Solidarität genau an dieser Stelle zu etablieren und eine (Um-)Verteilung von Bedarfsgütern, Kapital und anderen Notwendigkeiten zu gewährleisten.

Soll Europa Asylsuchenden während der Corona-Pandemie helfen?
    Ja, Menschenrechte gelten gelten auch in Krisenzeiten. (49%)
    Nein, wir haben derzeit andere Sorgen. (49%)
    Ich bin unentschlossen. (2%)
     
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    Gegenwärtig lässt sich zwar eine Vielzahl von Maßnahmen während der Corona-Krise beobachten, die das Etikett der Solidarität tragen; diese können aber ein großes Potenzial an Entsolidarisierungstendenzen und Verunsicherung beinhalten. In diese Reflexion gilt es einzubeziehen, dass die globale gesundheitliche Versorgung auf dem Prüfstand steht. Es muss zur Sprache kommen, dass Grenzen von jetzt auf gleich geschlossen, Telefondaten zur Überwachung der Bewegung von Menschen von Mobilfunkanbieter*innen gegenüber Regierungen frei gegeben werden könnten und plötzlich Milliarden zur Rettung der gesellschaftlichen Funktionssysteme in Aussicht gestellt werden oder zur Verfügung stehen. Benachteiligung und Privilegiertheit zeigen sich nun darin, wem solche Rettungsmaßnahmen zu Gute kommen und wer hierbei nicht berücksichtigt ist – Fragen, die in der Corona-Krise über Leben und Tod entscheiden können und auch in Zukunft für alle überlebensnotwendig erscheinen.

    Solidarität als gesamtgesellschaftliches Interesse

    Corona – so erleben wir gerade weltweit – geht derzeit mit einer Beschränkung in der Nutzung des städtischen Raums durch Menschen einher. Appelle, soziale Kontakte einzuschränken sowie Ausgangssperren lassen das Stadtbild mancherorts kühl erscheinen. Die empirisch interessante Frage lautet nun: Führt die Corona-Pandemie zu einem Verschwinden all des solidarischen Engagements in Städten, welches wir in der letzten Zeit – etwa in Form von Kundgebungen, Demonstrationen, Nachbarschafts-Tauschbörsen oder in solidarischen Wohnprojekten – neben einem Zuwachs rechtsextremer und rassistischer Bewegungen beobachten konnten? Erste Hinweise deuten darauf hin, dass eine solidarische Verbundenheit mancher in der Tat nicht verschwindet, sondern sich im virtuellen Raum vollzieht. Aufrufe, am 21. März 2020 um 19 Uhr auch in Deutschland von den Balkonen aus für all jene zu applaudieren, die im Krankenhaus und in den Supermärkten für die anderen sorgen, haben sich rasch über WhatsApp und andere mediale Kanäle verbreitet und an manchen Orten zu fluiden Funken von Solidarität geführt. Der Wunsch und das Streben nach Solidarität scheint – so unsere These – im Zuge von COVID-19 also nicht abzuebben.

    Wie können wir aber nun Entsolidarisierung mit dieser vorsichtigen Diagnose zusammenbringen? Hierzu lohnt eine reflexive Auseinandersetzung mit dem Solidaritätsbegriff als solchem und ein Blick hin zu Kontexten, die sich der Solidarität konzeptuell verschrieben haben: dem Ansatz solidarischer Städte.

    Solidarische Städte als Bildungsraum in der Corona-Pandemie

    Die Selbstdeklaration von Städten als solidarische Städte hat seit dem „langen Sommer der Migration“ in Europa zugenommen und im Umgang mit Fluchtmigration an Relevanz gewonnen1. Die Idee eines solidarischen Miteinanders im urbanen Raum orientiert sich am Konzept der Sanctuary City2, welches in den USA und in Kanada bereits seit den 1970er Jahren Verbreitung erfährt. Sich mit solidarischen Städten zu befassen, kann im Zuge der Ausbreitung von COVID-19 – so unsere These – neue gesellschaftliche Impulse liefern. So haben sich in Deutschland etwa Freiburg und Berlin zu solidarischen Städten erklärt. Solidarische Städte zielen auf die Herstellung eines angstfreien, inklusiven und lebensfrohen Stadtraums. Das solidarische Engagement wird dabei in transurbanen Netzwerken, wie dem Netzwerk „Solidarity City“, vorangetrieben. Das Netzwerk “Solidarity City“ fordert eine Stadt für alle und artikuliert das eigene Anliegen folgendermaßen:

    Wir fordern: Alle Menschen, die in einer Stadt leben…

    • sollen ein Recht auf Daseinsgrundversorgung haben
    • soll Zugang zu Infrastrukturen der Stadt gewährt werden
    • soll Bildung und Weiterbildung ermöglicht werden
    • sollen medizinische Beratung und Versorgung in Anspruch nehmen können
    • sollen politisch mitbestimmen dürfen
    • sollen das Recht auf kulturelle Teilhabe haben
    • sollen das Recht zu bleiben haben!“.

    Solidarische Stadtinitiativen berufen sich hierbei auf eine resident citizenship, die den Zugang zu sozialen Leistungen – etwa zur Gesundheitsversorgung, zu Bildung, zu Wohnraum und Arbeit – an den Ort des Lebens knüpft und von der potentiellen Barriere lösen will, eine spezifische Staatsbürgerschaft haben zu müssen, um teilhaben zu können.

    Die Corona-Pandemie macht notwendig, das solidarische Miteinander im sozialen Nahraum nicht zu vergessen, sondern weiterzuführen und zu explorieren – und hierbei insbesondere jene zu berücksichtigen, welche in unsicheren und prekären Räumen leben müssen, wie beispielsweise Menschen in den Geflüchtetenlagern in Deutschland, Griechenland, Italien und andernorts. Solidarische Städte entfalten die Perspektive, inklusive und urbane Räume zu schaffen für alle, die gerade anwesend sind. Die Idee solidarischer Städte hat unseres Erachtens das Potential, entscheidende Wegweiser im Umgang mit einer Viruskrise zu sein und eine solidarische Raumgestaltung hervorzuheben, damit diese Pandemie nicht zu einer Solidaritätskrise wird.

    „Quo vadis, Solidarität?“ Solidarität bedacht konzeptualisieren

    Eine Lehre, die sich aus der Corona-Krise schon frühzeitig abzeichnet und sicher noch vertieft werden muss, lautet, dass auch in Zeiten von Corona ein eindimensionaler Begriff von Solidarität kontraproduktiv ist. Die Corona-Krise darf nicht bedeuten, dass sie die Solidarität mit Geflüchteten zerstört und die Abschottungspolitik der EU legitimiert wird. Ein optimistisches Solidaritätsverständnis, welches hegemoniale Machtarchitekturen nicht übersieht, braucht zwingend eine weltoffene, rassismuskritische und emanzipatorische Stoßrichtung. Hierbei gilt es, den Solidaritätsbegriff bedacht zu konzeptualisieren, damit er genau jene emanzipatorische Stoßrichtung nicht verliert. Er braucht zwingend eine Rückkopplung an die Idee zur Ausgestaltung gerechter Gesellschaften, wie wir sie im Konzept der solidarischen Städte wiederfinden, damit der Begriff nicht verwässert und nicht von rechtsextremen und populistischen Strömungen und Parteien angeeignet wird3. An die Grundidee eines emanzipatorischen Solidaritätsbegriffs will dieser Beitrag angesichts der Gemengelage von Solidarisierung und Entsolidarisierung vor dem Hintergrund (nicht nur) der Corona-Pandemie erinnern und ein solches Verständnis deutlich herausstellen.

    „Quo vadis, Solidarität?“, haben wir angesichts von COVID-19 in diesem Artikel gefragt und einige Antwortmöglichkeiten skizziert. Wir wollen mit diesem Beitrag zu einer Auseinandersetzung mit ethisch-normativen genauso wie mit empirischen Fragen von (Ent-)Solidarisierung im Zuge von COVID-19 und darüber hinaus anregen und zu einer selbstkritischen Debatte einladen. Damit eben Ferrarotti (2020) mit seiner Vision einer Explosion von Lebensfreude und Solidarität am Ende doch recht behalten mag.

    1. Z.B.: Doomernik, Jeroen & Ardon, Djoeke (2018): The City as an Agent of Refugee Integration. In: Urban Planning 3 (4): 91-100.
    2. Z.B.: Bauder, Harald & Gonzales, Dayana A. (2018): Municipal Responses to ‚Illegality‘: Urban Sanctuary across National Contexts. In: Social Inclusion 6 (1): 124-134.
    3. Scherr, Albert (2019): Solidarität: eine veraltete Formel oder ein immer noch aktuelles Grundprinzip emanzipatorischer Praxis? In: Widersprüche 39 (1): 9-17.
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