Valeria Hänsel, Flüchtlinge, Philosophie, Sozialanthropologie, Konfliktforschung
Valeria Hänsel © MiG

Erschießungen und Hetzjagden

Die Faschisierung des Europäischen Grenzregimes

Die Flüchtlingspolitik der Europäischen Union an der griechisch-türkischen Grenze hat fatale Folgen - nicht nur für die Fliehenden. Diese Politik führt auch zur Faschisierung Europas.

Von Freitag, 06.03.2020, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 06.03.2020, 11:33 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Es häufen sich Nachrichten von Menschen, die an der griechisch-türkischen Landgrenze von griechischen Grenzschützern erschossen werden. In sozialen Netzwerken ist die Rede von 7 Personen, die mit Schusswunden ins Krankenhaus gebracht wurden, Videos zeigen Tote. Der erste Fall, die Erschießung eines jungen Syrers am Montag ist von Forensic Architecture bereits detailliert analysiert worden. In manchen Evros-Regionen sind die Menschen nun von allen Seiten eingeschlossen, denn Sondereinheiten der türkischen Polizei sollen griechische Pushbacks verhindern.

Sogenannte „Schießübungen“ sollen laut Regierungsankündigungen auch von der Küste von Lesbos in Richtung Meer durchgeführt werden. Zeitgleich gibt es immer mehr Berichte von Fliehenden, die auf dem Ägäischen Meer brutal von Maskierten in Zusammenarbeit mit der griechischen Küstenwache angegriffen werden. Die Motoren ihrer Schlauchboote werden zerstört, Boote auf offenem Meer aufgestochen, Boote durch Bugwellen fast zum Kentern gebracht und sogar Menschen in Schlauchbooten angeschossen. Ein Kind ertrinkt. Selbst die türkische Küstenwache ist weiterhin auf dem Meer aktiv und führt sogar Pull-backs aus griechischen Gewässern durch. Die in der Ägäis stationierten Frontex Einheiten halten sich derweil vornehm zurück.

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Hinzu kommt die Ankündigung der griechischen Regierung, das Asylrecht für Neuankommende außer Kraft zu setzen. Ca. 500 auf Lesbos angekommene Menschen wurden im Hafen der Hauptstadt Mytilene konzentriert und sollen von dort in ein geschlossenes Lager auf dem Festland gebracht werden, vermutlich das Militärcamp der Stadt Serres. Von dort sollen sie direkt abgeschoben werden, ohne jegliches Verfahren. Einige hatten zuvor bereits tagelang an den Küsten ausgeharrt und wurden dann schließlich zur geplanten Abschiebung in den Hafen gebracht.

„Das ewige Mantra, 2015 dürfe sich nicht wiederholen, hat sich so tief in die Köpfe eingebrannt, dass jede Eskalationsstufe recht ist, solange keine Flüchtlinge nach Europa kommen.“

Schutzsuchende sollen jedoch nicht nur kein Recht auf Asyl erhalten, sondern werden auch noch kriminalisiert. Berichten zufolge sind bereits 45 Personen, die die Evros-Grenze überquert haben, zu Gefängnisstrafen verurteilt. Auf Lesbos wurden am Montag sieben Männer zu je drei Jahren Haft und 1.000 Euro Bußgeld verurteilt, drei weitere Gerichtsverfahren gegen unbegleitete Minderjährige sind für Mai geplant. Viele weitere Verfahren werden mit Sicherheit folgen.

Derweil ist auf Lesbos die Hölle der faschistischen Gewalt ausgebrochen. Rechtsradikale Schlägertrupps beherrschen die Insel, sie jagen Migrant_innen und haben entlang der Straßen Blockaden errichtet. Autos werden danach kontrolliert, ob ihre Insassen griechisch sind, wenn nicht, werden sie angegriffen und Scheiben zertrümmert. Das Lager Stage 2 geht in Flammen auf. Die Eskalation von Protesten begann, als die griechische Regierung versuchte, den Bau neuer geschlossener Lager auf den Inseln durchzusetzen. Immer mehr NGO-Mitarbeiter_innen werfen nun das Handtuch und verlassen die Insel. Menschen wurden verletzt, ihre Fotos werden von Faschisten auf Facebook geteilt und sie werden zur Hetzjagd ausgeschrieben. Selbst das UN-Flüchtlingshilfswerks bleiben nicht verschont. Seenotrettungs-Teams, die seit Jahren Migrant_innen an der Küste erstversorgt haben, werden nun gejagt und auch von der Polizei an ihrer Arbeit gehindert. Rechte Gruppen verhindern, dass Geflüchtete anlanden und die Boote verlassen können.

Was ist das Fazit der EU zu diesen Entwicklungen? Nach der brachialen Gewalt und den Erschießungen von Menschen in Europa wäre es zu erwarten, dass die Täter wegen Mordes auf die Anklagebank gesetzt würden. Man könnte meinen, dass die Aussetzung des Grundrechts auf Asyl, welche die Europäische Menschenrechtscharta und Genfer Flüchtlingskonvention in den Staub tritt, ein Skandal ist und von der EU scharf sanktioniert würde. Oder dass sich die EU entsetzt über die entfesselte Gewalt von Faschisten gegenüber ihren eigenen Hilfsorganisationen äußert.

Doch nichts von alledem. EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen scheinen Erschießungen innerhalb Europas nicht übermäßig zu beunruhigen. Sie dankt Griechenland dafür, das „europäische Schild“ zu sein, denn “(d)iese Grenze ist nicht nur eine griechische Grenze, es ist auch eine europäische Grenze” und verspricht Griechenland 700 Millionen Euro Unterstützung. Die Grenzaufrüstung soll noch verstärkt werden, durch einen Rabit-Einsatz der europäischen Grenz- und Küstenwachenagentur Frontex.

„Menschen an der Grenze zu erschießen ist nur die letzte logische Konsequenz einer Politik, in der der Zugang zum Asyl systematisch verweigert wird.“

Das ewige Mantra, 2015 dürfe sich nicht wiederholen, hat sich so tief in die Köpfe eingebrannt, dass jede Eskalationsstufe recht ist, solange keine Flüchtlinge nach Europa kommen. Dies zeugt nicht nur von absurder Panikmache, sondern von einer faszinierenden Irrationalität. Die EU gibt mit ihrer gewalttätigen Abschottungspolitik nicht nur ihre vielbeschworenen menschenrechtlichen Grundwerte der Lächerlichkeit preis, sondern lässt sich zum Spielball der Regierung Erdogan machen.

Mit einer ausgefeilten Pressestrategie wurden Geflüchtete auf Betreiben der türkischen Regierung aus Abschiebegefängnissen freigelassen und Bustransporte an die Evros-Grenze und an die türkische Küste organisiert. Ablegende Boote wurden durch das Staatsfernsehen gefilmt und als Drohung in Richtung EU geschickt. Es war ein militärischer Gegenschlag im syrischen Krieg. Die Waffe: Flüchtlinge, deren Schicksale skrupellos missbraucht werden. Die türkische Regierung stiftet Chaos, um die EU und die Nato zu erpressen, sie im Krieg in Syrien zu unterstützen.

Dabei ist der EU Türkei-Deal noch nicht einmal ausgesetzt. Abschiebungen in die Türkei finden weiterhin statt und auch der türkische Grenzschutz ist zumindest teilweise aktiv. Die angeblich 130.000 Menschen, die die Grenze überwunden hätten, wurden in der EU nie registriert, auf den Inseln kamen innerhalb von drei Tagen ca. tausend Fliehende an und auch an der Evros-Grenze sind die Zahlen weiterhin gering.

Doch viel erschreckender als die türkische Machtpolitik ist die Hilflosigkeit der EU: Die ca. 13.000 Personen an der Grenze aufzunehmen wäre für die EU mit fast 450 Millionen Einwohner_innen ein Klacks und juristisch geboten. Doch heute lässt die EU lieber Schutzsuchende erschießen, als ihr Abhängigkeitsverhältnis zu Erdogan zu lösen. Ihr Kardinalsfehler war der Beschluss des EU-Türkei Deals, an dem sie eisern festhält. Anstatt aus den fatalen Fehlern zu lernen, spricht der Architekt des Deals Gerald Knaus nun von einer „Übereinkunft 2.0 zwischen der EU und der Türkei“. Denn die europäische Grenzpolitik basiert in ihren Grundfesten auf Erpressbarkeit – Abhängigkeiten von autoritären Regimen, die die Drecksarbeit für sie erledigen. Kommt dieses Verhältnis ins Wanken, wird für alle sichtbar, dass diese Politik auf dem Fundament von Entrechtung gebaut ist. Menschen an der Grenze zu erschießen ist nur die letzte logische Konsequenz einer Politik, in der der Zugang zum Asyl systematisch verweigert wird.

Dabei verkennt die EU die eigentlichen Gefahren: Ihre Politik führt nicht nur zum Tod von Fliehenden, sondern auch zur Faschisierung Europas. Es führt eine direkte Linie von den rassistischen Morden in Hanau zur faschistischen Hetzjagd auf Lesbos. Nur wenig überraschend ist daher, dass rechtsradikale Netzwerke in Deutschland dazu aufrufen, in den Kampf an die EU-Außengrenze zu ziehen und Menschen zu jagen. Meinung

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