Interview mit Suat Yılmaz
„Ich bin eine Visitenkarte der deutschen Gesellschaft“
Suat Yılmaz ist Regierungsbeamter, doch man sollte sich von dieser preußischen Berufsbeschreibung nicht abschrecken lassen: An dem 44-Jährigen ist nichts verstaubt – am wenigsten seine Ansichten. Im Gespräch erklärt er, warum er sich dem Ziel eines gerechteren Bildungssystems für Deutschland verschrieben hat, eines, das sich an den Stärken junger Menschen orientiert, nicht an ihren vermeintlichen Schwächen. Dafür hat er einen neuen Job erfunden: den Talentscout an Schulen.
Von André Boße Montag, 20.01.2020, 5:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Samstag, 07.05.2022, 16:49 Uhr Lesedauer: 17 Minuten |
Herr Yılmaz, Sie haben in einem Interview gesagt, Deutschland sei ein geiles Land – wenn man weiß, wie es funktioniert. Wie funktioniert Deutschland denn?
Gesagt hatte ich das mit Blick auf die politische Teilhabe junger Menschen, die aus einem Milieu kommen, in dem Demokratie und Partizipation eher weniger thematisiert werden. Deutschland bietet auch dieser Gruppe unglaublich viele Möglichkeiten, sich politisch zu beteiligen. Das empfinde ich, so mein Ausdruck damals, schon als geil. Wobei es unsere Aufgabe ist – als Teil der Gesellschaft -, diese abstrakten Möglichkeiten konkret erlebbar zu machen.
Suat Yılmaz (geboren 1975 in Tecran in der östlichen Türkei) siedelte mit seiner Mutter und vier Geschwistern 1978 ins Ruhrgebiet, wo sein Vater bereits drei Jahre zuvor Arbeit gefunden hatte. Sein älterer Bruder blieb in der Türkei. Suat Yılmaz ging nach der Grundschule zunächst auf ein Gymnasium in Oberhausen, wo er scheiterte. Über die Hauptschule machte er dennoch Abitur und studierte Sozialwissenschaften. Ausgehend von seinen eigenen Erfahrungen entwickelte Suat Yılmaz das Job-Profil eines Talentscouts für junge Menschen, die keine Chancengerechtigkeit erfahren. Er startete das NRW-Talentscouting an der Westfälischen Hochschule in Gelsenkirchen – das bundesweit erste Programm dieser Art. Suat Yılmaz ist heute Leiter der Landesweiten Koordinierungsstelle Kommunale Integrationszentren. Die Einrichtungen bieten Angebote für Kinder und Jugendliche mit Einwanderungsgeschichte, die die Bildungschancen verbessern sollen.
Wie versuchen Sie das?
Ich habe in Dortmund mit jungen Menschen gearbeitet, deren Eltern aus Ländern kommen, in denen Menschenrechte und Demokratie keine Bedeutung besitzen. Denen habe ich gesagt: „Leute, wenn ihr wollt, dann könnt ihr als Jugendliche die Bundeskanzlerin verklagen!“ Nicht, dass die das durchziehen sollten. (lacht) Das Beispiel diente als Beleg für eine ziemlich großartige Tatsache: Diese deutsche Demokratie ist ernst gemeint. Sie ist keine Fassade. Dazu gehört auch das Bewusstsein, dass es mit der Teilhabe nicht getan ist, wenn man alle paar Jahre wählen geht. Und dass es auch nicht „die Politik“ gibt, also ein System, das über uns schwebt und uns fremdbestimmt. Nein, wir sind ein gestaltender Teil dieses Systems – wenn wir denn wollen. Und mir macht es Spaß, jungen Menschen beizubringen, dass Teilhabe etwas bringt und dass sie sich trauen dürfen, sich zu engagieren. Für einige mag das banal klingen, aber für viele Milieus ist das alles andere als selbstverständlich.
Sie haben aus diesem Milieu heraus 2014 in NRW eine kommunale Partei gegründet, die „Verfassungsschüler“.
Genau, ich nenne sie gerne die „Shisha-Partei“, weil das Gründungslokal eine Shisha-Bar war. Die jungen Mitglieder wussten zunächst einmal gar nichts, sie hatten keine Ahnung, was eine Stadtratswahl bedeutet. Sie hatten auch nicht vor, wählen zu gehen – weil ihre Eltern es nicht taten oder nicht durften, weil sie keinen deutschen Pass besitzen. Oder einfach nur, weil sie dachten, das sei nur etwas für ältere Menschen, denn es stehen ja auch keine jungen Politiker zur Wahl. Ich habe diese Gruppe, aus der eine junge Partei erwuchs, wie ein Ausbildungsleiter begleitet; es kam jemand von der Wahlkommission, ein Parteiprogramm und Kandidaten mussten her und so weiter. Das war viel demokratische Theorie, aber immer mit konkreter Anwendung. Im Grunde ist das ein Projekt für aufsuchende Demokratiearbeit: In der Dortmunder Nordstadt interessiert man sich meist von Hause aus nicht für Demokratie. Daher müssen wir präsent sein, bevor sich dort vornehmlich die Salafisten und Nazis tummeln.
Ich würde gerne die Einstiegsfrage noch einmal anders stellen: Wie funktioniert in Ihren Augen die deutsche Mentalität?
Wenn ich die deutsche Mentalität beschreiben soll, dann beschreibe ich mich selbst –und vergleiche mich mit meinen Verwandten, die in der Türkei leben. Was uns Deutsche ausmacht, ist, dass die Dinge, die wir tun, fundiert sein müssen. Es muss immer einen bestimmten Rahmen geben. Um es konkret zu machen, wenn ich in der Türkei bin, rege ich mich über die Bürgersteige auf, weil die entlang einer Straße mal höher, mal tiefer sind. Das fällt mir auf. Und das ist sicherlich meiner deutschen Mentalität geschuldet.
Welche Art von Gesellschaft formt diese deutsche Mentalität?
Ich beobachte auf der einen Seite eine kalte und harte Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die Menschen, die ins Land gekommen sind, nicht recht akzeptiert, wenn sie die Sprache nicht so gut können. Oder wenn sie anders aussehen. Auf der anderen Seite ist diese deutsche Gesellschaft eine der warmherzigsten, die ich kennengelernt habe. Wenn ich zum Beispiel an die Krankenschwester denke, die meine Mutter gepflegt hatte, als sie im Sterben lag, das war purer Humanismus. Was ist also jetzt Deutsch, das eine oder das andere? Beides! Was es schwer macht, die deutsche Mentalität zu beschreiben.
Eine paradoxe Gesellschaft.
Ich glaube generell, dass Nationen, Kulturen, Gruppen unterschiedliche Gesichter haben. Was für mich feststeht: Ich würde jetzt nicht hier sitzen, in dieser Position, wenn mir deutsche Menschen nicht sehr viele Türen geöffnet hätten.
Welche Türen meinen Sie?
Meine Schullaufbahn war wechselhaft, ich war zunächst auf einem Gymnasium, auf dem ich scheiterte. Danach ging es mit 13 auf eine Hauptschule – für viele sowieso die Schule, auf die ein Junge wie ich, mit Gastarbeitern als Eltern, hingehörte. Ich fühlte mich als totaler Versager, was mich die anderen in der Klasse auch spüren ließen. Dieses Gefühl der Schmach habe ich nie vergessen. Zumal mir bewusst war, dass ich ungerecht behandelt worden war.
Warum?
Schüler mit deutschen akademischen Eltern wären auf dem Gymnasium sitzen geblieben oder hätten Nachhilfe bekommen. Zu meinen Eltern hat der Direktor gesagt: „Der packt das nicht – der muss auf die Hauptschule.“ Nicht mal auf die Realschule. Ich fragte: warum nicht? Da sagte mein Vater: „Willst du mir erzählen, dass du besser weißt, was richtig für dich ist, als ein deutscher Beamter?“ Für ihn war klar: Aus mir wird hier in Deutschland nix mehr. Mein großes Glück war, dass es auf der Hauptschule einen Schulleiter gab, der meine Talente erkannt hat. Also rief er meinen Vater an, der nicht besonders gut Deutsch konnte, und sagte ihm: „Herr Yılmaz, ihr Sohn kann was! Der sollte das Abi machen.“ Mein Vater war total stolz, er empfand das als großartige Anerkennung, dass sich ein Schulleiter eingehend mit seinem Sohn beschäftigt – und nicht, weil er Blödsinn gemacht hat, sondern weil er Potenziale erkannt hat. Diese Wertschätzung ist es, die Menschen dazu bringt, sich Deutschland zugehörig zu fühlen.
Wie haben Sie damals das kalte und harte Deutschland, von dem Sie sprachen, kennengelernt?
Zu einer großen Identitätskrise als Deutscher kam es nach den Anschlägen in Mölln und Solingen (1992 und 1993, Anm. die Red.). Ich hatte mich vorher gar nicht groß mit der Frage beschäftigt, welche Rolle ich in diesem Land einnehme. Gut, ich galt als Türke, viele meiner Freunde waren nur die Spanier, Italiener oder Jugoslawen. So nannte man uns, aber es brachte uns nicht ins Grübeln. War einfach so. Nach Solingen und Mölln krachte bei mir einiges zusammen, ich dachte: „Nein, ich werde hier niemals dazugehören, und es wird der Tag kommen, da werden die uns alle umbringen.“ Die – das waren die Bio-Deutschen. Uns – das waren wir Türken, Spanier, Jugoslawen.
Wie kamen Sie aus dieser Identitätskrise wieder raus?
Info: Deutschland verändert sich, Deutschland wird vielfältiger. Was bedeutet das für die Gesellschaft, wie erlebt es der Einzelne, mit und ohne Migrationshintergrund? Und welche Rolle spielt der Sport dabei? Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) nimmt das 30-jährige Bestehen des Bundesprogramms „Integration durch Sport“ zum Anlass, um Interviews mit Personen aus ganz unterschiedlichen Lebensbereichen zu führen – über Fragen zu Migration, Integration und Identität. Mal persönlich, mal wissenschaftlich, mal eher entlang abstrakter Fragen. Dieses Interview ist der vierte Teil der vom Journalisten und Medienberater Marcus Meyer konzipierten und über einen längeren Zeitraum angelegten Gesprächsserie. Die ersten drei – mit Punkrocksänger Sammy Amara, dem Schriftsteller Ilija Trojanow und der TV-Journalistin Isabel Schayani – sind unter integration-durch-sport.de zu finden.
Auch hier waren es Menschen aus Deutschland, die mir geholfen haben, die Anti-Haltung abzulegen. Mein Deutschlehrer damals in der Oberstufe hat mir von Goethe und Schiller erzählt und mir Deutschland mit Hilfe der Hochkultur wieder nähergebracht. Unterstützt haben mich damals auch meine Fußballtrainer. Ich habe zwölf Jahre gekickt, und in jedem Team war es total egal, ob nun Suat oder Marcel das Tor schießt –Hauptsache, der Ball ist in der Kiste! Das waren für mich unglaublich viele positive Erfahrungen, die mich zu dem gemacht haben, der ich heute bin. Ich bin also eine Referenz dieser deutschen Gesellschaft. (überlegt) Vielleicht sogar eine Visitenkarte dieser Gesellschaft.
Wie geht es Ihnen als Visitenkarte, wenn das andere Deutschland wieder auftaucht, zum Beispiel bei der Aufdeckung des NSU?
Natürlich war das ein erneuter Bruch, davon gab es so einige. Warum hat die Polizei im Fall des NSU so unsauber gearbeitet? Wie kann es sein, dass es bei der Bundeswehr oder bei Sondereinsatzkommandos waschechte Nazis gibt? Diese Dinge verunsichern Menschen mit einer Zuwanderungsgeschichte zutiefst, sie erzeugen dramatische Risse. Der große Unterschied bei mir: Ich bin heute stabiler. Es gibt ein Fundament, an dem eben auch sehr viele Deutsche mit mir zusammen gebaut haben. Und dieses Fundament steht fest. Dem können ein paar Risse in seiner Gesamtheit nicht mehr viel anhaben. Denn die simple Grundbotschaft lautete: „Egal, was ein paar Deutsche zu dir sagen mögen: Du gehörst trotzdem dazu!“ Und das ist keine Phrase, das ist die Wahrheit, denn meine Identität nimmt mir keiner mehr. Meine Erinnerungen an die Krankenschwester, den Schulleiter, Deutschlehrer, Fußballtrainer – die trage ich immer bei mir. Meine Sprachkenntnisse auch, inklusive dem Kohlenpott-Dialekt, den ich mir, ohne es zu wollen, angeeignet habe. Das Ruhrgebiet ist meine Heimat. Und die lasse ich mir von keinem Nazi mehr nehmen.
Was genau ist für Sie Heimat?
Das, worüber ich Hoheit habe. Soll Heimat ein Ort sein, wäre es das Ruhrgebiet. Soll sie eine Sprache sein, wäre es der Dialekt dieser Region. Und soll Heimat eine Kultur sein, dann ist da das türkische Erbe meiner Eltern, in hohem Maße aber auch das, was Deutsche an mich vermittelt haben. Von Fußball bis Schiller. (überlegt) Heimat ist mein ganz persönlicher Reaktor.
Stellt Integration den Menschen im besten Falle eine stabile Reaktorhülle zur Verfügung?
Das klingt jetzt sehr technisch. Sehr deutsch. (lacht) Integration hat auch etwas mit Emotionen zu tun, insbesondere mit Erfolg. Man ist als Mensch, der in dieses Land kommt oder dessen Eltern andere Wurzeln haben, häufig zunächst so weit weg von der Mehrheitsgesellschaft, dass man es als Erfolg verspürt, wenn man Stück weit in ihre Richtung geschwommen ist.
Was war für Sie persönlich eine wichtige Etappe?
Ich selbst war als Jugendlicher Teil einer Gastarbeitertruppe, und als ich Anfang der 90er-Jahre zum ersten Mal zu einer Party eingeladen wurde, bei der sonst nur Nichtmigranten anwesend waren, da war ich stolz. Für mich war das ein wichtiger Schritt, das war meine Wahrnehmung damals. Was erstens zeigt, dass Integration etwas ganz Persönliches und Intimes ist. Und zweitens, dass Integration nicht zwingend etwas mit einer Migrationsgeschichte zu tun hat. Nehmen wir Marcel aus Dortmund, so genannter Bio-Deutscher, Einzelkind, die Mutter alleinerziehend und Hartz IV-Empfängerin – und er kriegt die Kurve, wird Bäckermeister. Auch seine Geschichte hat etwas mit Integration zu tun, in Gang bringt man diese durch Erfolge. Deshalb ist es die Aufgabe dieser Gesellschaft, jeden Menschen individuell so zu behandeln, dass er vorankommt. Übrigens nicht aus dem Motiv der Barmherzigkeit heraus, weil man diesem Menschen helfen will. Sondern weil die Gesellschaft davon profitiert, wenn dieser Mensch die Chance hat, seine Talente einzubringen.
In Deutschland erhalten viele jungen Menschen diese Chance, weil ihre Eltern sie unterstützen. Was ist mit denen, die diese Hilfe nicht haben?
Hier muss der Staat diese Aufgabe übernehmen. Ich fordere zum Beispiel in den Schulen die Einführung eines Chancenindex. Den Sozialindex gibt es ja schon, da wird aufgezeigt, wie gut sich die Schulen kümmern, wie gut Probleme bewältigt werden. Das ist schön und gut, aber da darf der Weg nicht zu Ende sein. Ich setze mich dafür ein, viel positiver anzusetzen. Ich will Hoffnungen wecken, vielleicht sogar Visionen, wobei…
… da einem immer der Satz des Altkanzlers Helmut Schmidt einfällt, der sagte, wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen.
Dabei war Schmidt ja selbst durchaus visionär. Aber es ist schon typisch für Deutschland, dass sich dieser Satz so sehr im kollektiven Bewusstsein festgesetzt hat. Wir müssen aufpassen, dass er uns gedanklich nicht lähmt und vom Träumen abhält.
Noch so ein Wort: Träumen. Die Deutschen sagen: Träum weiter – und meinen das nicht positiv.
Ich bekenne mich dazu, Träume zu verfolgen. Wobei ich den Begriff von Träumereien unterscheide. Eine Träumerei ist etwas Kindliches. Ein Traum ist für mich ein konkretes Ziel, von dem man noch ein gutes Stück weit entfernt ist.
Gut, dann träumen wir mal: Angenommen, Sie wären Minister für Bildung und hätten einen milliardenschweren Haushalt zur Verfügung. Wie würden Sie das deutsche Bildungssystem verändern?
„Meine Eltern hatten eine Basis gelegt, weil sie redliche und fleißige Leute waren. Sie waren dennoch darauf angewiesen, dass ich auf meinem langen Weg Menschen begegnet bin, die in mich investiert haben.“
Ich würde Schulklassen mit Talentförderern wie mich ausstatten. Also mit Leuten, die einen jungen Menschen nicht fragen: Was hast du für Probleme? Oder: Warum hast du wieder Ärger gehabt? Das ist auch wichtig, keine Frage, aber neben dieser defizitorientierten Sozialarbeit muss es Leute geben, die sagen: „Du bist jung, du hast Power, und wir als Gesellschaft brauchen dich. Also: Was kannst du?“ Das ist eine ganz andere Ansprache, die zu Wertschätzung führt. Weil den Jugendlichen eben nicht nur ein Sozialarbeiter nach Problemen fragt, sondern ein Talentscout nach den Dingen, die dieser junge Mensch besser kann als andere. Da wird die Brust gleich ein bisschen breiter. Was ich zudem einführen würde: Ein bundesweites Schülerstipendium, gezielt für junge Menschen, die aus dem Elternhaus heraus kaum Förderung erhalten.
Sie haben im Ruhrgebiet das Schülerstipendium „RuhrTalente“ ins Leben gerufen. Welche Wirkung hat ein solches Programm?
Wir schicken die jungen Menschen, viele davon aus Familien mit Zuwanderungsgeschichte, nach Liverpool in die Sprachschule oder ins Sheraton-Hotel, um dort das Kulturelle Kapital des guten Benehmens zu lernen. Was sie dort erleben, berichten die Stipendiaten in ihren Familien und im Freundeskreis, das sind für diese Milieus exotische Geschichten aus 1001 Nacht. Dass der Bruder oder die Schwester, der Freund oder die Freundin diese Chance hat, das motiviert alle. Wie das wirkt, sehe ich an meiner Familiengeschichte, wir sind sechs Geschwister, drei davon sind älter als ich, sie haben nicht studiert. Ich bin der erste Akademiker in der Familie. Wenn Sie so wollen, habe ich damit eine gläserne Decke durchbrochen, und meine beiden jüngeren Geschwister sind mir an die Uni nachgefolgt.
Haben Sie selbst Kinder?
Eine noch sehr junge Tochter, ja, erst wenige Monate alt. Sie wird laut Statistik eine Migrantin sein, aber natürlich hat sie alle Chancen der Welt: Meine Frau ist Lehrerin, ich bin Regierungsbeamter, uns geht es finanziell gut, die Jobs sind sicher, wir haben beste Kontakte. Meine Eltern hatten alles dies nicht. Meine Eltern hatten eine Basis gelegt, weil sie redliche und fleißige Leute waren. Sie waren dennoch darauf angewiesen, dass ich auf meinem langen Weg Menschen begegnet bin, die in mich investiert haben. Ich hatte Glück, dass mich die Etappen durch die Wüste nicht fertiggemacht haben. Aber die Gesellschaft hatte auch Glück, denn wer weiß, ob ich nicht ein erfolgreicher Krimineller geworden wäre. Besser wäre es daher doch, wenn es ein System gibt, dass Chancen garantiert.
Welche Rolle kann der Sport in diesem System einnehmen?
„Was für eine verpasste Chance! Wäre Özil anders aufgetreten, sprachgewandter, smarter, dann hätte er einen noch größeren Einfluss auf die türkische Community und die deutschen Kids ausüben können, als alle Bundesprogramme zur Integration zusammengenommen.“
Ich erzählte ja schon, dass für mich Fußball eine Welt war, in der meine Herkunft keine Rolle spielte. Als ich vom Gymnasium auf die Hauptschule kam und wirklich Komplexe hatte, war es der Fußball, der mich nach vorne brachte: Ich konnte kicken, war gut im Schulsport – und das brachte mir den Respekt der Alpha-Typen ein, die mich zunächst als reinen Versager sahen. Das Besondere an Teamsportarten generell ist, dass dort eine eigene Sprache gepflegt wird. Niemand sonst spricht so wie ein Trainer, der von außen aufs Feld schreit. Hinzu kommt, dass man im Sport generell auf sein Talent reduziert wird. Das ist positiv gemeint, denn dadurch entsteht unter den Talentierten eine Chancengleichheit., die es im Bildungssystem nicht gibt. Dein Vater ist Professor und hat beste Kontakte? Hilft dir nichts, wenn du keine Buden machst! Nimm dir ein Beispiel an den Mädels oder Jungs, deren Eltern aus der Türkei kommen oder deren Mutter als Putzfrau arbeitet. Insbesondere der Fußball gestaltet eine leistungsorientierte und megakapitalistische Laborsituation, die bei aller Härte dafür sorgen kann, dass jemand zu einem Star wird, der sonst kaum eine Chance auf einen Aufstieg gehabt hätte.
Zum Beispiel?
Mesut Özil. Ich kenne ihn aus Veranstaltungen, bevor er ein Superstar wurde, ein guter Typ aus Gelsenkirchen, aber introvertiert. Schwer zu sagen, welchen Weg er gegangen wäre, wenn er kein so brillanter Fußballer gewesen wäre. Ich weiß noch, wie bahnbrechend ich es empfand, als deutsche Kids mit Özil-Trikot durch die Stadt gelaufen sind. Das hätte es in den 80er- und 90er-Jahren nicht gegeben. Und wir Türken, Spanier und Jugoslawen wiederum hätten uns gar nicht getraut, für die deutsche Nationalmannschaft zu halten. Wenn im Stadion gerufen wurde „Steht auf, wenn ihr Deutsche seid“, dann haben wir uns ausgeschlossen gefühlt. Özil ist einer dieser Spieler, die dafür gesorgt haben, dass sich das geändert hat. Und dann ist es schiefgegangen.
Seine Karriere in der Nationalmannschaft endete nach der verkorksten WM 2018. Für einige Medien und Experten war Özil der „Sündenbock“, in der Kritik stand er nach dem Foto an der Seite des türkischen Präsidenten Recep Erdogan. Seinen Rücktritt begleitete er mit einem Angriff auf den DFB, er beklagte „Rassismus und Respektlosigkeit“.
Ich finde weder alles gut, was Özil und seine Berater gemacht haben, noch, was man mit ihm gemacht hat. Nüchtern muss ich feststellen: Was für eine verpasste Chance! Wäre er anders aufgetreten, sprachgewandter, smarter, dann hätte er einen noch größeren Einfluss auf die türkische Community und die deutschen Kids ausüben können, als alle Bundesprogramme zur Integration zusammengenommen. So hat diese Geschichte den negativen Effekt, dass viele Leistungsträger mit türkischen Wurzeln zu Recht sagen: „Egal, wie erfolgreich ich bin, mache ich einen Fehler, werde ich wieder auf das reduziert, was ich für die deutsche Gesellschaft immer bleibe: die Türkin oder den Türken.“
Zurück in die Schulen: Kann Sportunterricht dabei helfen, solche Mechanismen auszuhebeln?
Ich glaube tatsächlich, dass man durch Schulsport bei jungen Menschen einen Kanal in Richtung politischer Teilhabe oder Demokratie öffnen kann. Wobei es klug sein kann, wenn nicht unbedingt die Sportlehrkraft diese Stunden abhält, sondern ein Demokratiescout. Sport bringt junge Menschen zusammen, auf Basis von Regeln und Fairness. Leute, die sonst wenig bis gar nichts miteinander zu tun haben, interagieren zusammen. Es entstehen Gruppendynamiken, mit denen sich zum Beispiel zeigen lässt, wie gewinnbringend es ist, wenn man möglichst alle in das Team integriert und wenn man dieses Team so aufstellt, dass die jeweiligen Talente optimal zur Geltung kommen.
Wann scheitert Integration?
Wenn Menschen keine Hoffnung für eine bessere Zukunft haben und relevante Faktoren wie Sprache, Arbeit und politisch-gesellschaftliche Teilhabe nicht vorhanden sind.
Und wann gelingt sie?
Wenn wir für Menschen – und insbesondere junge Menschen – unabhängig von kultureller Herkunft, Geldbeutel und dem Bildungsstand der Eltern zeitnah passgenaue Maßnahmen für den Zugang zu Ausbildung, Arbeit und Sprachkenntnissen anbieten und sie früh mit demokratisch-gesellschaftlichen Beteiligungsmöglichkeiten in Kontakt bringen. Aktuell Gesellschaft Interview
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