Zivile Seenotrettung
Wie Grundwerte der EU mit Füßen getreten werden
Nach dem Aus für die EU-Mission „Sophia“ ist die zivile Seenotrettung im Moment die einzig erträgliche Antwort gegen das Sterben im Mittelmeer. Statt sie zu honorieren, wird sie kriminalisiert. Das ist nichts anderes als die Grundwerte der EU mit Füßen zu treten.
Von Elmedin Sopa Donnerstag, 09.05.2019, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 13.05.2019, 17:05 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Die Europäische Union verkündete das Aus für ihre Mission „Sophia“, die tausende Menschen vor der Küste Libyens rettete. Die Einstellung der Mission ist dem Streit zwischen den Mitgliedstaaten geschuldet, die sich nach wie vor auf Verteilmechanismen der Geretteten nicht einigen können. Dass dadurch auch die Solidarität unter den Mitgliedstaaten als Ausdruck der Grundwerte der EU missachtet wird, das hat höchstens den Charakter einer Randnotiz.
Denn dort, wo staatliche Strukturen sich zurückziehen, ist das Handeln privater Rettungsmaßnahmen unabdingbar. Die Pflicht der Seenotrettung ergibt sich aus Völkergewohnheitsrecht, an das sich jeder Staat halten muss. Diese resultiert aus jahrhundertealter Tradition in der Schifffahrt. Die Pflicht zur Rettung von in Seenot geratenen Personen trifft somit jedes Schiff auf See, unabhängig von Flagge, Ziel oder Zweck. Schon in der ersten Kodifizierung über Seenotrettung wird deren Bedeutung hervorgehoben, sodass auch feindlichen, in Seenot geratenen Schiffe Hilfe zu leisten ist. Seit jeher unterliegt diesem Prinzip der Gedanke der Völkergewohnheitsrechts, dass kein Seegebiet unüberwacht bleibt und ein Schiff in der Not jederzeit Hilfe anfordern kann und diese, ohne dass das herbeieilende Schiff sich selbst gefährdet, auch erhalten muss.
Auf der anderen Seite des Mittelmeers wird der Einsatz der libyschen Küstenwache erwartet und die Verantwortung von der Europäischen Union auf diese abgewälzt. Libyen, ein Land, das seit dem Tod von Muammar al-Gaddafi von inneren Machtkämpfen und bürgerkriegsähnlichen Zuständen geplagt wird und nicht zur Ruhe kommt. Ausgerechnet dieses Land soll eine sichere Bleibe für Geflüchtete sein.
Laut dem letzten Bericht des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte sind Geflüchtete in Libyen schwersten Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Sie werden Ziel rechtswidriger Tötungen, Folter, Vergewaltigung und Misshandlungen verschiedenster Art. Auch das Auswärtige Amt konstatierte „KZ-ähnliche Zustände“ und systematische Menschenrechtsverletzungen in den Unterbringungen von Geflüchteten, die vielmehr ein Gefängnis für sie sind.
Die neusten Entwicklungen um die Machtübernahme durch den selbsternannten Feldmarschall Khalifa Haftar verschlimmern die Situation vor Ort. Dass Libyen und seine Küstenwache nicht in der Lage sind Seenotrettung im Mittelmeer zu gewährleisten, viel schlimmer noch, Menschen bewusst ertrinken lassen und zivile Seenotrettung behindern, hat die New York Times ausführlich dokumentiert. Darauf zu setzen, dass Libyen sich dieser Verantwortung gerecht wird, setzt einen politischen Willen der EU voraus, untätig zu bleiben.
Zurückweisungen nach Libyen
Oft hört man den Vorschlag, dass Menschen im Mittelmeer gerettet werden, aber bitte doch wieder nach Libyen zurückschicken. Menschen nach Libyen zurückzubringen verstößt gegen das Gebot der Nichtzurückweisung (auch bekannt als Non-refoulement-Gebot), das sowohl in Art. 33 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (auch bekannt als Genfer Flüchtlingskonvention) als auch in Art. 19 Absatz 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert ist, solange in dem jeweiligen Land Menschen die Todesstrafe, Folter oder ernsthafter Schaden drohen.
Die Wichtigkeit der Einzelfallprüfung hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in dem Grundsatzurteil Hirsi Jamaa and others v. Italy (Application no. 27765/09) entschieden. Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), der alle EU-Staaten beigetreten sind, entfaltet ihre Geltung auch auf Hoher See, weil Staaten ihre Hoheitsgewalt auch auf ihren Schiffen faktisch ausüben. Solange sich nicht die Situation in Libyen nachweislich verbessert und die Menschenrechte der Geflüchteten gewährleistet sind, ist eine Aus- oder Zurückweisung nach Libyen mit den Prinzipen des Non-refoulement nicht vereinbar.
Die Mär vom „Pull-Effekt“ durch zivile Seenotrettung
Die zivile Seenotrettung ist vermehrt dem Vorwurf ausgesetzt, dass sie durch ihre Einsätze im Mittelmeer den Anreiz verstärken und Menschen nahezu animieren, den Weg nach Europa durch das Mittelmeer auf sich zu nehmen, weil sie ohnehin von einem Rettungseinsatz ausgingen. Ihnen wird dadurch eine proaktive Rolle zugeschrieben, dass die Versuche, das Mittelmeer zu überqueren, zunehmen würden.
Zahlen hierfür gibt es keine. Im Gegensatz, eine Studie der University of Oxford sieht darin keine signifikanten Veränderungen. Die gemessenen Zahlen der Ankünfte verhalten sich in Zeiten der Missionen von Mare Nostrum (November 2013 – Mai 2014), Triton I (November 2014 – Mai 2015) und Triton II (November 2015 – Mai 2016) in der Relation zueinander ohne bemerkenswerte Unterschiede. Mit einer Ausnahme: Die Sterblichkeitsrate steigt, wenn im Mittelmeer die Seenotrettung heruntergefahren wird. Die Studie kommt zum Ergebnis, dass die EU, eine humane Politik im Zusammenhang mit dem Sterben im Mittelmeer zu finden, gescheitert ist. In den letzten 16 Jahren sind über 30.000 Menschen gestorben und eine Lösung sei nicht in Sicht.
Die zivile Seenotrettung ist nichts anderes als ein Symptom der gescheiterten EU-Politik zum Thema Flucht und Migration. Zivile Akteur*innen setzen dort an, wo der Staat oder eine Staatengemeinschaft ihrer eigenen Verpflichtungen und Grundwerten nicht nachkommt. Sie zu kriminalisieren, gar bei ihren Einsätzen zu behindern, wird das Sterben im Mittelmeer nicht aufhalten. Die Verantwortung nach Libyen zu verlagern, in dem Glauben, dass sich dort das Problem erübrigen wird, ist töricht und verkennt die globalen Zusammenhänge von Flucht und Migration, für die auch die EU unmittelbar und mittelbar verantwortlich ist. Wer das Meer vor der Küste Westafrikas leerfischt und dort Fleisch ganz billig und ohne Rücksicht auf den heimischen Markt importiert, nimmt auch die Zerstörung der Existenzgrundlage der Menschen vor Ort in Kauf.
Auf die zivile Seenotrettung einzudreschen heißt nichts anderes als die Grundwerte der EU mit Füßen zu treten. Denn diese Menschen, die übrigens Europäer*innen sind, machen nichts anderes als die Verantwortung der Gemeinschaft zu übernehmen, die aufgrund ihrer Untätigkeit das Sterben im Mittelmeer nicht verhindert. Das Sterben von Menschen im Mittelmeer ist schlichtweg durch nichts zu rechtfertigen. Aktuell Meinung
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