Bildungsskandal in NRW
Kein politischer Wille für eine unabhängige Überprüfung der Sonderschulen
Nach dem spektakulären Prozessgewinn von Nenad Mihailovic gegen das Land NRW verdichten sich Hinweise, dass sich in den Sonder-/Förderschulen für Geistige Entwicklung auch Kinder und Jugendliche befinden, die keine geistige Behinderung haben.
Von Dr. Brigitte Schumann Donnerstag, 25.04.2019, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 01.05.2019, 16:36 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Im Juli 2018 verurteilte das Landgericht Köln das Land NRW zur Zahlung von Schadensersatz, weil Nenad Mihailovic zu Unrecht von Sonderpädagogen als geistig behindert eingestuft und in einer Kölner Sonderschule für Geistige Entwicklung um sein Recht auf Bildung betrogen worden war. In den jährlichen Überprüfungen seines Förderbedarfs durch die Sonderpädagog*innen seiner Schule war seine geistige Behinderung trotz der ihm attestierten Leistungsfähigkeit nie in Frage gestellt, sondern einfach fortgeschrieben worden. Die untere und obere Schulaufsicht bestritten bis zuletzt eine Amtspflichtverletzung. Da die gerichtlich eingeholte gutachterliche Stellungnahme eindeutig zugunsten des Klägers ausfiel, wurde das Gerichtsurteil vom Land nicht angefochten, aber mit Schweigen belegt. Das Ministerium als oberste Schulaufsicht hat sich dazu nie erklärt, auch nicht mit einer Entschuldigung gegenüber dem Kläger.
WDR-Bericht über Sonderschule in Dortmund
Am 14. November 2018 wurde die WDR-Dokumentation „Ein Schüler verklagt den Staat – Nenad und das Recht auf Bildung“ ausgestrahlt. Neben dem dargestellten Prozessverlauf im Fall Nenad Mihailovic besuchte das Fernsehteam eine Sonderschule für Geistige Entwicklung in Dortmund, interviewte den Schulleiter sowie eine Sonderpädagogin und führte Gespräche mit Schüler*innen.
Die interviewten Schüler*innen entsprachen in keiner Weise der Definition, die in § 5 der AO-SF (Ausbildungsordnung Sonderpädagogische Förderung) für den Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung zugrunde gelegt wird. Dort heißt es: „Ein Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung besteht, wenn das schulische Lernen im Bereich der kognitiven Funktion und in der Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit dauerhaft und hochgradig beeinträchtigt ist, und wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür sprechen, dass die Schülerin oder der Schüler zur selbständigen Lebensführung voraussichtlich auch nach dem Ende der Schule auf Dauer Hilfe benötigt.“
Wie können Schüler*innen geistig behindert und damit hochgradig beeinträchtigt sein, die sich vor einer Kamera situations- und kommunikationsangemessen verhalten und sich überlegt, klar und verständlich mitteilen? Dagegen zeigt der Film, dass die Vertreter*innen dieser Institution es selbstverständlich finden, dass ihre Schülerschaft insgesamt nicht an Bildung teilhat, sondern sich beim Training lebenspraktischer Tätigkeiten wohlfühlt. Wenn für ältere Schüler*innen Wäschepflege und Bügeln auf dem Plan stehen, trotz ihrer anders gelagerten individuellen Neigungen und Fähigkeiten, dann stellt sich nicht mehr die Frage, ob die Sonderschule auf ein Leben mit möglichst selbstständiger Existenzsicherung oder auf die Arbeit in der Behindertenwerkstatt vorbereitet.
Der Film bestätigte den Kölner Elternverein mittendrin e.V. in seiner Befürchtung, dass Nenad eben kein Einzelfall ist. In einer Pressemitteilung vom November 2018 forderte der Verein von Schulministerin Yvonne Gebauer abermals eine Überprüfung der Sonderschule Geistige Entwicklung durch eine unabhängige Kommission. Dazu hat sich die Ministerin bis heute nicht geäußert.
Sonderbeschulung zwischen Diagnostik und Systemerhalt
Zweifel und Kritik am System der sonderpädagogischen Förderung kamen jüngst vom Landesrechnungshof (LRH) in Niedersachsen und bereits 2013 vom nordrhein-westfälischen Landesrechnungshof. Im Rahmen seines 2013 an den Düsseldorfer Landtag adressierten Berichts über die „Prüfung des Schulbetriebs an öffentlichen Förderschulen“ äußerte er u.a. Kritik am Verfahren zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs und zur jährlichen Überprüfung desselben.
Regionale Unterschiede bei der Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs im größten Förderschwerpunkt Lernen waren auffällig und deuteten aus Sicht des LRH darauf hin, dass es bei der Bewertung des sonderpädagogischen Förderbedarfs keine landesweit einheitlichen Maßstäbe gibt. Das AO-SF-Verfahren sei in seiner jetzigen Form grundsätzlich zu hinterfragen, so der LRH. Zu der jährlichen Überprüfung stellte er fest, dass diese nur in sehr wenigen Fällen zu einer Rückschulung in die allgemeinen Schulen führte. „Weitaus häufiger führte sie zu einem Wechsel vom Förderschwerpunkt Lernen zum Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung. (…) Darüber hinaus wurden Schüler mit dem Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung der Gruppe der Schwerstbehinderten zugeordnet.“
Die vom LRH stichprobenhaft eingesehenen Begründungen für die beantragten und offensichtlich von der Schulaufsicht genehmigten Förderschwerpunktwechsel waren häufig nicht nachvollziehbar oder wiesen deutliche Mängel auf. Da der Wechsel zwischen diesen Förderschwerpunkten ohne Wechsel des Förderortes stattfand und den betreffenden Schulen damit eine günstigere Schüler-Lehrer-Relation und einen höheren Lehrerstellenbedarf erhielt, war das Misstrauen des LRH wegen des Verdachts auf „Selbstbedienung“ geweckt.
Bis zum heutigen Tag gibt es weder für die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs noch für das jährliche Überprüfungsverfahren konkrete verbindliche Vorgaben für die Durchführung seitens des Schulministeriums.
Kein „Weiter so“ mit hausinternen Korrekturen!
Auf die Anfrage von mittendrin e.V., wie das Ministerium die im WDR-Film dokumentierten Sachverhalte bewerte, verwies man wortkarg darauf, dass die Schulaufsicht um einen Bericht gebeten worden sei. Außerdem arbeite man daran, „konkretere Vorgaben für die bereits rechtlich verankerte jährliche Überprüfung des sonderpädagogischen Förderbedarfs zu machen, die zu mehr Transparenz gegenüber den Betroffenen und deren Eltern führen“. Auf die Forderung nach einer unabhängigen Untersuchungskommission ging man nicht ein.
Wenn es tatsächlich möglich ist, dass Kinder, die nicht geistig behindert sind, in der Sonderschule Geistige Entwicklung beschult werden, Dann reicht es auch nicht, Optimierungen an der Praxis der jährlichen Überprüfung des Förderbedarfs vorzunehmen.
Denn anscheinend hat sich über die Jahrzehnte eine „Sonderwelt“ im Bereich der Schulverwaltung unter den Augen der Bildungspolitik etablieren können, deren Erhaltung über das Recht des Kindes auf Bildung und auf inklusive Bildung gestellt wird. Diese „Sonderwelt“ muss einer Überprüfung durch unabhängige Expert*innen unterzogen werden. Deren Aufgabe muss es auch sein, zu klären, weshalb wider Erwarten die Quote der Schüler*innen mit einer diagnostizierten geistigen Behinderung in den letzten Jahren angestiegen ist, während der Anteil der Schüler*innen mit der Diagnose Lernbehinderung abgenommen hat. Leitartikel Politik
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Das kann ich auch für Hessen bestätigen
dort wurden auch einige
die schwieriger waren von einer Förderschule
in eine GE Schule „befördert“
Ich finde so eine Entwicklung sehr schade
Und ich würde für mein Kind wieder kämpfen
das es nicht in einer GE geparkt wird.
Einmal in den Fängen der Sonderschule, zieht Dich eine unsichtbare Kraft nicht nur in den Bildungskeller, sondern gleichzeitig ins soziale Aus, wie in ein „Schwarzes Loch“… wenn nicht zufällig – gleichsam einem Lottogewinn – viele günstige Faktoren im sozialen Beziehungsnetz diesen äußerst ungünstigen, ja sogar extrem Menschenrechte verletzenden und daher auch schädlichen Sog / Effekt abbremsen.
Lottogewinn hat allerdings überhaupt nichts mit Bildungsgerechtigkeit, Chancengleichheit, Diskriminierungsfreiheit etc. zu tun und ist daher genauso wenig mit unserer Verfassung – Würde, Gleichheit, Freiheit – vereinbar!
Seit 2009 sollte eine Diskussion über die Frage Sonderschule versus Allgemeines staatliche Schule obsolet sein. Die Frage einer Beschulung jenseits/außerhalb der allgemeinen staatlichen Schule sollte ausschließlich auf individuellen ganz besonderen und daher ebenso SELTENEN individuellen Bedürfnislagen beruhen, die auch nicht mit „angemessenen Vorkehrungen“ an den „Schulen in der Gemeinschaft, in der die Kinder leben“ (UN-BRK) ausgeglichen werden können. Sonderschulen in der Masse wie vor Inkrafttreten des Gesetzes (Bundesgesetzblatt Dezember 2008) müssten daher bei Einlösung des Menschenrechts inzwischen entweder zumindest überwiegend leer stehen oder aber in allgemein staatliche – inklusive – Schulen umgewandelt worden sein.
Die aktuelle schulische Selektionspraxis in Deutschland ist immer noch eine gravierende Menschenrechtsverletzung. Etwa Dreiviertel der SonderschülerInnen verlassen die Schule OHNE Hauptschulanschluss (Parallelbericht vom 15. März 2015 der Monitoring-Stelle des Deutschen Instituts für Menschenrechte) – TROTZ der erheblich größeren Ressourcenausstattung!
Wofür soll die Sonderschule gut sein, wenn sie nicht
a) entweder nur Entlastungsfunktion für die allgemeine Schule bewirken soll (was wiederum kaum mit dem Versprechen der individuellen Förderung gleichzusetzen ist) oder
b) den wesentlich höheren Steuermitteleinsatz in wenigstens Hauptschulabschluss „verwandelt“. Sonderschüler kosten pro Jahr knapp das Doppelte im Vgl. zu Mittelschülern – zusätzliche Kassenfinanzierte therapeutische Angebote (Ergo-, Logo- Physio-) und sonstige öffentliche Gelder aus sozialen Mitteln (Schulassistenzhelfer) noch nicht berücksichtigt
???
Der starre Fokus im Fall Nenad auf die Frage seiner nicht vorhandenen „geistigen Behinderung“ (Leistungsvergleichsansatz) verzerrt jedoch den Blick aufs Wesentliche: Als Menschenrecht gilt die UN-BRK grds. für jedeN SchülerIn. Auch sogenannt „geistig behinderte“ Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Zugehörigkeit in der allgemeinen Schule (Inklusion und ein Anrecht auf „angemessene Vorkehrungen“ zur „Chancengleichen bestmöglichen Bildung“ dort). Die UN-BRK formuliert mitnichten ein Wahl-Recht: Wähle entweder die vielen Ressourcen in den Sonderschulen (mit all ihren sozialen Nachteilen), oder aber die Einzelintegration in der ansonsten eher Ressourcenarmen Grund- oder Mittelschule („Mangel-Inklusion“). Und mit der Beschulung an der allgemeinen staatlichen Schule kann dann dieser zutiefst Entwürdigende Begriff endlich als vollkommen überflüssig in die geschichtliche Vergangenheit des Endes des Zeitalters der systematischen Sonderbeschulung eintreten. Die Zuschreibung einer „geistigen Behinderung“ ist per se für jeden Menschen eine tiefe Beleidigung und an Würde verletzender Wirkung wohl kaum von anderen Schimpfwörtern zu überbieten.
Madlen