Kopftuch, Kopftuchverbot, Diskriminierung, Frauen, Schule
Kopftuchverbot @ MiG

Kopftuchverbot für Minderjährige

Empört. Enttäuscht. Fassungslos.

Empört über den Titel der Petition von Terre des Femmes „Den Kopf frei haben“. Enttäuscht über das Unverständnis einer gemeinnützigen Menschenrechtsorganisation gegenüber Frauen, die nicht in ihre ‚weiße‘ Feminismusdefinition passen. Und fassungslos über die zahlreichen Unterzeichnungen dieser Petition von jenen Menschen, die in der Öffentlichkeit als Sprachrohr gelten.

Von und Mittwoch, 27.03.2019, 5:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 10.07.2019, 17:30 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Der Aufruf von Terre des Femmes hat uns Schwestern, beide tätig im sozialpädagogischen Bereich, zutiefst getroffen. Die wichtigsten Werte, die in unserer Familie hochgeschrieben werden, sind Akzeptanz und Respekt gegenüber unterschiedlichen Lebensentwürfen. Nur so kann ein friedliches Miteinander und ein diskriminierungsfreies Deutschland erlangt werden.

Indem Terre des Femmes versucht, ein angebliches Recht für minderjährige Mädchen einzufordern, tut sie genau das Gegenteil: nämlich anderen Mädchen das Recht wegnehmen, sich frei entfalten zu können. Terre des Femmes unterstellt diesen Mädchen, nicht eigenständige Entscheidungen (sei es über das Kopftuch oder nicht) treffen zu können.

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Auch die im Aufruf stehende Aussage, Mädchen mit Kopftuch könnten kein unverkrampftes Verhältnis zur eigenen Sexualität entwickeln, verwundert uns sehr. Wir stellen uns zum einen die Frage, was ihre Quelle zu solch einer Information ist und zum anderen wer eigentlich bestimmt, was ein unverkrampftes Verhältnis zur Sexualität bedeutet. Außerdem ist es befremdlich, dass ausgerechnet ‚weiße‘, christlich geprägte Frauen ein unverkrampftes Verhältnis zur Sexualität beanspruchen, da die Missionierung der so genannten Anderen auch damit einherging, zu bestimmen, wie ‚zivilisierte‘ weibliche Sexualität auszusehen hat.

Der Aufruf von Terre des Femmes verdeutlicht: Es geht hier um vorhandene Machtstrukturen. Eine Gruppe von ‚weißen‘ Frauen, die ihr Selbstbild als emanzipiert und kämpferisch definiert, sieht sich über all jene anderen Frauen erhaben, die ihrer Ansicht nach den Weg der Emanzipation noch gehen müssen. Sie konstruieren sich als ‚fortschrittlich‘, ‚sexuell frei‘ und ‚modern‘ und haben die Macht, dieses Bild in die Welt hinaus zu transportieren. Damit schließt sich Terre des Femmes der langen, bis heute anhaltenden kolonialen Tradition an, Schwarzen und People of Color Emanzipation, Fortschritt und Entwicklung abzusprechen. Sie tragen damit einmal mehr zur Festigung des Bildes bei, dass Schwarze und People of Color von ‚weißen‘ Menschen gerettet werden müssen und sichern damit auch in Zukunft die ‚weiße‘ Vorherrschaft.

Statt einer Solidarisierung und dem Zusammenhalt der Menschen, die sich für Menschenrechte einsetzen, herrscht hier eine Ungleichbehandlung von Schwarzen Menschen und People of Color. Nicht überrascht sind wir daher über das Bild auf der Startseite von Terre des Femmes, auf welcher ausschließlich ein ‚weißes‘ vermeintlich homogenes Frauenbild repräsentiert wird. Diese Repräsentation ist nicht realitätsnah, da die deutsche Gesellschaft keineswegs als homogen definiert werden kann – dies wird aber gerne suggeriert, wenn es darum geht, Minderheiten zu diskriminieren. Durch ihre Präsentation eines vermeintlich homogenen Frauenbildes lässt sich für uns darauf schließen, dass ihre Organisation auch ‚weiß‘ und christlich dominiert ist, was uns nicht wundert, da eine „Menschenrechts- bzw. Frauenrechtsorganisation“, die nur bestimmte Frauen mit Rechten ausstattet, auch für uns nicht als Wirkungsstätte in Frage kommt. Wir fühlen uns in einer solchen gemeinnützigen Organisation nicht willkommen.

Paradoxerweise fordern sie in ihrer Petition, dass jene Mädchen frei vom Ausschluss aus vielen Lebensbereichen durch Verschleierung sein sollen. Keineswegs unterstützen wir das Tragen eines Kopftuchs unter Zwang. Weder bei minderjährigen Mädchen noch bei erwachsenen Frauen. Genauso unterstützen wir das Ablegen des Kopftuchs eines Mädchens nicht, das sich selbst dazu entschieden hat, es zu tragen. Die Annahme, dass minderjährige Mädchen sich nicht frei dafür entscheiden können, ist eine Unterstellung.

Wir beide sind in einer praktizierenden muslimischen Familie aufgewachsen. Unsere Mutter trägt seit ihrer Jugend ein Kopftuch. Wir sind vier Schwestern und den Zeitpunkt, ob und wann wir ein Kopftuch tragen wollen, hat jede Einzelne selbst entschieden. Unsere zweitjüngste Schwester trägt, seit sie zwölf Jahre alt ist, ein Kopftuch. Während wir, ihre älteren Schwestern noch mit 20 Jahren keines getragen haben. In manchen öffentlichen Veranstaltungen oder Institutionen sorgte dies für Verwirrung. Wie konnte das passieren? Hat sich der Vater bei den älteren Mädchen nicht durchsetzen können? Oder war die jüngere Schwester schlicht nicht dazu in der Lage, „unverhüllt und selbstbestimmt zu denken und zu handeln“?

Die Möglichkeit, dass unsere Eltern uns die freie Entscheidung überlassen haben, ein Kopftuch tragen zu dürfen oder nicht, wird überhaupt nicht in Erwägung gezogen. Hierbei wird ebenfalls deutlich, wie wirkmächtig muslimfeindliche Diskurse sind: so mächtig, dass Eltern kopftuchtragender Mädchen unhinterfragt unterstellt wird, dass sie ihre Kinder zu allem möglichen zwingen würden – besonders aber zum Tragen eines Kopftuchs.

Auch Terre des Femmes schließt diese Möglichkeit aus, womit wir uns explizit von dieser Organisation und jener Petition distanzieren. Denn wir möchten uns, wie wir es schon immer gemacht haben, für eine Diskussion auf Augenhöhe und einen respektvollen und solidarischen Umgang miteinander einsetzen.

Info: Dieser Beitrag ist eine Kooperation von MiGAZIN mit dem Netzwerk Rassismuskritische Migrationspädagogik Baden-Württemberg. Das Netzwerk versteht sich als Forum von Menschen aus den Feldern Soziale Arbeit, Schule, Bildung/Weiterbildung, Hochschule sowie angrenzenden Professionen, die sich fachlich und (fach-)politisch in den Feldern Soziale Arbeit, Schule, Weiterbildung – und auch darüber hinaus – einmischen und dort Rassismus selbststärkend, reflexiv-kritisch und wenn nötig auch skandalisierend zum Thema machen. Das Netzwerk informiert Interessierte in regelmäßigen Abständen von circa 1-2 Monaten per E-Mail-Newsletter über aktuelle Entwicklungen, Veranstaltungen und Publikationen im Feld der Migrationspädagogik. In diesem Newsletter ist der hier veröffentlichte Beitrag als Gastbeitrag erschienen, unterstützt durch das Projekt „Empowerment – quer gedacht?!“ von adis e.V. – gefördert im Programm „Demokratie leben!“.

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  1. Ute Plass sagt:

    „Denn wir möchten uns, wie wir es schon immer gemacht haben, für eine Diskussion auf Augenhöhe und einen respektvollen und solidarischen Umgang miteinander einsetzen.“

    Dazu bietet die migrationskritische Stellungnahme eine wichtige Grundlage:
    https://www.rassismuskritik-bw.de/blog/

  2. karakal sagt:

    Allein schon aufgrund ihrer Bezeichnung „Terre des Femmes“ ist diese Organisation abzulehnen. Anscheinend wird Feminismus meist als Kampf der Geschlechter gegeneinander (miß)verstanden anstatt als Kampf um Gleichberechtigung der Geschlechter. Im Französischen bedeutet das Wort „homme“ sowohl „Mann“ als auch „Mensch“, was wohl einige Feministinnen dazu verleitet haben mag, in Anlehnung „Terre des Hommes“ = „Erde der Menschen“ ihre Organisation „Terre des Femmes“ = „Erde der Frauen“ zu nennen. In deutscher Übersetzung wirkt diese Bezeichnung – wo wir im Deutschen zwischen „Mann“ und „Mensch“ beiderlei Geschlechts unterscheiden – auf mich jedoch als Anstachelung zu dem unsinnigen und verderblichen Krieg zwischen den Geschlechtern. Wie soll ich mir eine „Erde der Frauen“ vorstellen? – Als eine Tyrannei, in der peitschenschwingende Dominas ihre männlichen Sklaven dazu zwingen, ihnen die Stiefel zu küssen? – Da sollten wir es doch lieber bei einer „Erde der Menschen“ – beiderlei Geschlechts belassen!

  3. Aramis sagt:

    Bei der Diskussion, ob ein Kopftuchverbot für Minderjährige sinnvoll sein kann, wird nicht zwischen Ethnien oder familiären Herkünften unterschieden. Es steht die Frage im Raum, ob es gesellschaftlich geduldet werden muss, wenn bereits Minderjährige sich als „reine Wesen“ begreifen wollen und mit dem Hijab sich bedecken, um sittsam zu sein und sich bereits im Kindesalter als sexualisierte Objekte – von Männern! – markieren.

    Diese Frage muss offen diskutiert werden! In offenen Gesellschaften ist es nicht so einfach, individuelle Freiheiten, die auch „bdeckten“ Frauen zusteht, einzukassieren. es steht der Mehrheitsgesellschaft nicht zu, Individuen vorschreiben zu wollen, wie sie sich kleiden dürfen und wie nicht. Es gibt aber Grenzbereiche, in denen eine gesellschaftliche Diskussion notwendig sein kann, um zum Beispiel auszuloten, ob der Hijab bei Kindern nicht zur verstetigung patriachaler Vorstellungen führt, wonach die Frau sich Männern zu unterwerfen hat.

    Eine Diskussion darüber mit Fragen nach Hautfarbe oder Ethnie zu verknüpfen, wie es in diesem Artikel passiert, ist ein durchsichtiger Versuch, Fronten zu bilden.

  4. Samira Selle sagt:

    Wenn das Kopftuchverbot für minderjährige Mädchen diese vor einer frühkindlichen Sexualisierung schützen soll, wäre auch ein Verbot von Bikinis und Badeanzügen in Kindergrößen zu hinterfragen, denn auch hier wird ja die weibliche Sexualität (der Busen, selbst wenn noch nicht vorhanden) vor dem männlichen Blick verhüllt. Dass Männer in Europa größtenteils oben ohne baden, während Frauen das sehr viel seltener tun, bleibt im Diskurs um verschiedene Bedeckungsgrade zwischen den Geschlechtern viel zu oft unbeachtet, ebenso wie der Fakt dass öffentliches Stillen offenbar immer noch ein Politikum darstellt. Nur weil das Kopftuch für die Mehrheitsgesellschaft ungewohnte Körperteile verhüllt, heißt das nicht, dass diese Praxis per se patriarchaler oder sexistischer ist als das Bedecken der weiblichen Brust im eurpäischen Kontext.