
Interview mit NSU-Nebenklage
„Aufklärung nur mit Auseinandersetzung staatlicher Mitverantwortung.“
Die AnwältInnen Seda Başay-Yıldız und Carsten Ilius vertreten Adile Şimşek und Elif Kubaşık als NebenklägerInnen im kurz vor Urteilsverkündung stehenden NSU-Prozess. Im Interview sprechen sie über die Bedeutung von institutionellem und strukturellem Rassismus bei den Ermittlungen, das Unterstützungsnetzwerk des NSU, Leerstellen bei der juristischen Aufarbeitung der rechtsextremen Taten sowie notwendige Ansatzpunkte, um Rassismus auf unterschiedlichen Ebenen zu begegnen.
Von Ellen Kollender Mittwoch, 04.07.2018, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 05.07.2018, 20:35 Uhr Lesedauer: 31 Minuten |
Enver Şimşek und Mehmet Kubaşık sind zwei der insgesamt zehn Opfer, deren Ermordung dem sogenannten Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) zugeschrieben wird. 1 Şimşek wurde am 9. September 2000 in Nürnberg an seinem Blumenverkaufsstand niedergeschossen und erlag zwei Tage später seinen schweren Verletzungen. Kubaşık wurde am 4. April 2006 in Dortmund in seinem Kiosk ermordet. Die Ermittlungsbehörden verdächtigten ihn bis zur ‚Selbstenttarnung‘ des NSU fälschlich krimineller Machenschaften und seine Familie der Beteiligung an der Tat. Elif Kubaşık, die Witwe von MehmetKubaşık, erinnert sich:
Alle schauen einen feindselig an, und dann wird man auch noch von der Polizei beobachtet. Es gab niemand, der uns mit freundlichen Augen ansah. Es ging sogar so weit, dass die, die uns nicht so gut kannten, uns nicht mehr auf der Straße begrüßen wollten. […] Dann gab es diese Berichte in der Zeitung, in der stand, wir hätten Verbindungen zur Mafia in Istanbul gehabt. Dabei hatte ich bis dahin Istanbul noch nie gesehen. 2
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Auch die Witwe und die Tochter von Enver Şimşek – Adile und Semiya Şimşek – wurden in zahlreichen Vernehmungen durch die bayerischen Ermittlungsbehörden mit Behauptungen konfrontiert, die sich schließlich als falsch herausstellten: Şimşek sei Drogenkurier gewesen und habe sich in mafiösen Strukturen bewegt. In ihrem Buch „Schmerzliche Heimat“ beschreibt die Tochter, Semiya Şimşek, die Erfahrung der Kriminalisierung im Rahmen der Ermittlungen und dessen traumatisierenden Folgen für die Familie. Sie kritisiert vor allem, dass die Polizei einem möglichen rassistischen Mordmotiv nie gleichberechtigt nachgegangen sei 3.
Rassismus und Rechtsextremismus in Deutschland. Figurationen und Interventionen in Gesellschaft und staatlichen Institutionen.
Der Sammelband (Hrsg.: Mechtild Gomolla, Ellen Kollender und Marlene Menk) beschäftigt sich mit unterschiedlichen Facetten von Rassismus und Rechtsextremismus in ihren historischen Kontinuitäten und gegenwärtigen Ausprägungen im Kontext von Globalisierung, aktueller Fluchtmigration, der Herausbildung neuer rechter Bewegungen sowie der Aufarbeitung der NSU-Morde. Die Beiträge geben einen Überblick über aktuelle Forschungsperspektiven auf Rassismus und Rechtsextremismus in Deutschland sowie zentrale Definitionen, Begriffe und Kontroversen. Einen Schwerpunkt bildet die Verwurzelung rechtsextremer, rassistischer und anderer menschen(rechts)verachtender Orientierungs- und Handlungsmuster, Strukturen und Gewaltformen in staatlichen Institutionen und der sogenannten gesellschaftlichen Mitte. Der Band fragt zudem nach geeigneten bildungspolitischen und -praktischen Ansätzen, um in Gesellschaft und staatlichen Institutionen alltägliche (Diskriminierungs-)Muster von Rechtsextremismus und Rassismus zu durchbrechen.
Erschienen am 7. Februar 2018 im Beltz Verlag. Weitere Infos gibt es hier…
„Die auf rassistischen Stereotypen beruhende Kriminalisierung der Opfer war kein Einzelfall, sondern erfolgte in allen Fällen, in denen die Opfer des NSU-Terrors Migrant*innen waren. Daraus ergibt sich ein Muster von routinierten Verhaltensweisen, das als institutioneller Rassismus bezeichnet wird“, heißt es in der Anklageschrift, die im Rahmen des Tribunals „NSU-Komplex auflösen“ von verschiedenen zivilgesellschaftlichen antirassistischen und migrantischen AkteurInnen im Mai 2017 am Schauspiel Köln verlesen wurde 4). In ihrer Anklage beziehen sich die AutorInnen auf eine Definition von institutionellem Rassismus, wie sie 1999 während der juristischen Aufarbeitung des Mordes am Schwarzen Teenager Stephen Lawrence von der von Sir Macpherson of Cluny geleiteten Untersuchungskommission in Großbritannien erarbeitet wurde. Diese wies der britischen Polizei nach, systematisch eine rassistische Tatmotivation in ihren Untersuchungen vernachlässigt und zum Nachteil der Familie des Opfers ermittelt zu haben 5).
Die AnwältInnen Seda Başay-Yıldız und Carsten Ilius vertreten Adile Şimşek und Elif Kubaşık als NebenklägerInnen im NSU-Prozess. Seit Beginn der Verhandlungen am 6. Mai 2013 vor dem Münchener Oberlandesgericht begleiten sie die juristische Aufarbeitung der deutschlandweiten Mordserie. Der Angeklagten Beate Zschäpe sowie vier weiteren mutmaßlichen UnterstützerInnen des rechtsextremen NSU werden, neben den zehn Morden, zwei Sprengstoffanschläge und 15 Banküberfälle zur Last gelegt.
Başay-Yıldız und Ilius haben in der Vergangenheit mehrfach öffentlich die Ausblendung eines institutionellen und strukturellen Rassismus im Rahmen der polizeilichen Ermittlungen wie auch der politischen und juristischen Aufarbeitung der NSU-Morde kritisiert (vgl. u.a. Schellenberg, Britta/Daimagüler, Mehmet/von der Behrens, Antonia/Başay-Yıldız, Seda/Ilius, Carsten/Doerfer, Achim (2016): Parallelbericht zum 19.-22. Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland an den UN-Ausschuss zur Beseitigung rassistischer Diskriminierung (CERD). Institutioneller Rassismus am Beispiel des Falls der Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) und notwendige Schritte, um Einzelne und Gruppen vor rassistischer Diskriminierung zu schützen. (Abfrage: 16.08.2017) [/efn_note]. Kurz vor dem Ende des NSU-Prozesses und der Urteilsverkündung haben wir, die Herausgeberinnen des Sammelbandes „Rassismus und Rechtsextremismus in Deutschland. Figurationen und Interventionen in Gesellschaft und staatlichen Institutionen“ (s. Kasten), mit Başay-Yıldız und Ilius in einem schriftlich geführten Interview über Figurationen von Rassismus und Rechtsextremismus im Kontext des NSU-Prozesses gesprochen. 6
Mechtild Gomolla, Ellen Kollender und Marlene Menk: Frau Başay, Herr Ilius, als NebenklagevertreterInnen haben Sie das Prozessgeschehen von Anfang an verfolgt. Was hat Sie persönlich im Laufe des Prozesses rückblickend besonders bewegt?
Seda Başay-Yıldız: Berührt haben mich besonders die Tatortfotos der Opfer, die wir uns im Gerichtssaal ansehen mussten. Natürlich sind alle Morde sinnlos. Aber dass ein Mensch nur deswegen umgebracht wird, weil er kein ‚Deutscher‘ im Sinne der Mörder war, ist schockierend. Auch die Erkenntnis, dass Menschen so weit gehen können, um ihren Rassismus zu verteidigen, war für mich erschreckend. Stellen Sie sich vor, diese Menschen töten Menschen, die sie nicht kennen, nur weil es „Scheiß Kanacken“ sind und nur um „den Erhalt der Deutschen Nation zu sichern“.
Sie erkennen an den Bildern der Leichen den unbeschreiblichen Hass und den absoluten Vernichtungswillen der TäterInnen. Für die Opferangehörigen, die anfangs an dem Prozess teilgenommen haben und sich auch das Bekennervideo des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrundes angeschaut hatten, war das unerträglich. Für die von mir vertretene Opferfamilie Şimşek war das Foto von Enver Şimşek erschütternd, das die Täter kurz nach der Tat von dem zunächst Schwerverletzten gemacht hatten, mit dem Hinweis im Bekennervideo „Jetzt weiß auch Enver Şimşek wie wichtig uns der Erhalt der deutschen Nation ist“.
Auch bin ich bei den Gesprächen mit den Angehörigen immer wieder bestürzt, wie die Ermittlungsbehörden mit ihnen umgegangen sind. Sie verlieren einen geliebten Menschen durch einen brutalen Mord, wissen nicht, wer das getan hat und werden jahrelang verdächtigt.
Berührt haben mich auch die ZeugInnenaussagen der Familienangehörigen im Prozess. Die Aussage von Ismail Yozgat, der schilderte, wie sein Sohn Halit Yozgat in seinen Armen gestorben ist sowie die Aussage von Frau Kiliç, die eindrucksvoll berichtete, wie sie jahrelang wie eine Verdächtige behandelt wurde und das Blut ihres Mannes Habil Kiliç im Laden selbst reinigen musste – eine gebrochene, stark traumatisierte Frau, die all die Jahre hin- und hergeschoben wurde und sich immer wieder sagte, dass das Leben weitergeht, die aber irgendwann nicht mehr konnte. Frau Kiliç war es auch, die Frau Zschäpe während ihrer Aussage im Prozess direkt ansprach und fragte: „Was habt ihr von ihm gewollt? Er war ein guter Mensch und ein Deutscher“. Kiliç wurde darauf vom Vorsitzenden Richter mit erhobener Stimme zurechtgewiesen. Es tat mir leid, zu sehen, wie mit ihr umgegangen wurde. Wieder war sie die ‚Verantwortliche‘…
Carsten Ilius: Ich kann mich Seda Başay-Yıldız hier in Bezug auf die Aussagen der Angehörigen nur anschließen. Das war zum Teil sehr schwer auszuhalten. Für die Familien der Mordopfer und die Betroffenen der Bombenanschläge war es auch erschreckend zu erleben, dass nur einer der vielen aussagenden PolizeibeamtInnen sich für die rassistischen Ermittlungen gegen die Familien vor dem 4. November 2011 im Prozess entschuldigte. Entsprechende Entschuldigungen hatte es zuvor ja schon nicht gegeben. Dieses Verhalten deckt sich leider mit meinen beruflichen Erfahrungen.
- Neben der Ermordung von Enver Şimşek und Mehmet Kubaşık werden dem NSU von Seiten der Staatsanwaltschaft die Morde an Abdurrahim Özüdoğru (Nürnberg, 13.06.2001), Süleyman Taşköprü (Hamburg, 27.6.2001), Habil Kılıç (München, 29.8.2001), Mehmet Turgut (Rostock, 25.2.2004), İsmail Yaşar (Nürnberg, 9.6.2005), Theodoros Boulgarides (München, 15.6.2005), Halit Yozgat (Kassel, 6.4.2006) und der Polizistin Michèle Kiesewetter (Heilbronn, 25.4.2007) zugerechnet.
- vgl. Kubaşik, Elif/Kubaşik, Gamze (2016): Rassismus im Recht? – Ermittlungen gegen Opfer des NSU und deren Angehörige. (Abfrage: 17.08.2017) [zuerst abgedruckt im SonderBrief Rassismus & Recht 2016 des RAV (Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e.V.)]
- vgl. Şimşek, Semiya/Schwarz, Peter (2013): Schmerzliche Heimat: Deutschland und der Mord an meinem Vater. Berlin: Rowohlt Berlin
- vgl. Tribunal „NSU-Komplex auflösen“ (2017): Wir klagen an! Anklage des Tribunals „NSU-Komplex auflösen“ – 17.-21. Mai 2017 – Köln-Mülheim. (Abfrage: 16.08.2017
- vgl. Macpherson of Cluny, William (1999): Report of the Stephen Lawrence inquiry, Ref: Cm 4262. (Abfrage: 16.08.2017
- Das Interview ist im Laufe des Jahres 2017 entstanden, weshalb jüngere Entwicklungen des Prozessgeschehens im Folgenden nicht thematisiert werden; (redaktionelle Bearbeitung: Ellen Kollender).
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