"Öffnet die Häfen"
Italiener protestieren gegen Regierung und EU-Flüchtlingspolitik
Tausende Menschen gehen in ganz Italien gegen die Abschottung ihres Landes auf die Straße. Gleichzeitig verwahren sie sich gegen Kritik von EU-Ländern, denen sie mangelnde Solidarität mit Migranten vorwerfen. Von Bettina Gabbe
Montag, 18.06.2018, 5:20 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 18.06.2018, 16:37 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Sie wollen die Entscheidung ihrer neuen Regierung, die Häfen für Flüchtlings-Rettungsschiffe zu schließen, nicht einfach hinnehmen. Unter dem Motto „Aprire i porti“, „öffnet die Häfen“ haben bereits Tausende Italiener in zahlreichen Städten von Mailand bis Palermo dagegen protestiert. Sie rufen zur Achtung der Rechte von Migranten.
„Niemand ist illegal“, hieß es beispielsweise auf Transparenten bei einer Demonstration auf dem Platz vor der Mailänder Scala am Dienstag. Gleichzeitig fordern sie mehr Hilfe von Europa, das Italien in den vergangenen Jahren mit dem Flüchtlingsansturm alleingelassen habe.
Italienischer Innenminister in der Kritik
Gründer von Hilfsorganisationen wie Gino Strada von „Emergency“, ansonsten eher für traurige Liebeslieder bekannte Sänger wie Roberto Vecchioni, die katholische Arbeitnehmerorganisation ACLI, Publizisten, Hausbesetzer und Asylsuchende eint die Empörung über den neuen Innenminister Roberto Salvini. Der hatte vor etwa einer Woche die Häfen geschlossen und so mehr als 600 Geflohene auf dem Rettungsschiff „Aquarius“ einer tagelangen Odyssee ausgesetzt. An diesem Sonntag sollten sie in der spanischen Hafenstadt Valencia an Land gehen. Doch was mit weiteren im Mittelmeer geretteten Flüchtlingen passiert, bleibt unklar.
Bei Kundgebungen in ganz Italien kritisierten die Bürger die Weigerung des stellvertretenden Ministerpräsidenten und Parteichefs der rechtspopulistischen Lega, die 629 Flüchtlinge von der „Aquarius“ aufzunehmen. Einig waren sie sich auch in ihrer Sorge um die Achtung der italienischen Verfassung und eine drohende Isolierung des Landes. Die Verfassung erkennt die Gültigkeit des Völkerrechts und das Recht auf Asyl von Ausländern an, die in ihren Heimatländern keine demokratischen Freiheiten genießen.
Wut der Demonstranten
Doch es gehe nicht nur um die Schließung der Häfen und Salvinis aggressives Auftreten, mahnte der Regionalgouverneur von Piemont, Sergio Chiamparino, bei einer Kundgebung in Turin. „Wenn es nur heißt, öffnet die Häfen, und das bedeutet, kommt her, wir schaffen das schon irgendwie, reicht das nicht“, warnte der Sozialdemokrat. „Es braucht dringend eine europäische Antwort auf die Einwanderung durch humanitäre Korridore, die gemeinsam mit den Herkunftsländern entwickelt werden müssen.“
Angesichts der Abschottung zahlreicher EU-Länder gegen Flüchtlinge richtete sich die Wut der Demonstranten auch gegen Nachbarstaaten. Mit dem Vorwurf des Zynismus gegen Salvini wegen des „Aquarius“-Debakels schoss Frankreich Präsident Emmanuel Macron auch in den Augen der Demonstranten ein Eigentor. Denn auf das Angebot der korsischen Regionalregierung, die „Aquarius“ aufzunehmen, wurde keine Reaktion der Regierung in Paris öffentlich. Zudem hindert Frankreich an der Grenze in Ventimiglia wartende Migranten an der Einreise. Im vergangenen Winter starben einige von ihnen beim Versuch, über die Alpen ihre Angehörigen in Frankreich zu erreichen.
Wahlkampf auf dem Rücken von Kindern
Auch der Mailänder Stadtrat für Soziales, Pierfrancesco Majorino, kritisierte Macron. Er könne Italien keine Lektion erteilen, „denn es besteht kaum ein Unterschied dazwischen, Häfen oder Bergpässe zu schließen“. Salvini warf Majorino vor, „schlicht unwürdigen Wahlkampf auf dem Rücken von 117 Kindern im Mittelmeer“ zu machen.
Salvini habe die Aufnahme der Flüchtlinge auf der „Aquarius“ in Valencia fälschlicherweise zu Unrecht als Solidarität Spaniens mit Italien vereinnahmt, sagte einer der Organisatoren von Protesten im norditalienischen Modena, Vittorio Nemi Campana. „Spanien hat nicht aus Solidarität mit Italien eingegriffen sondern aus Verantwortungsgefühl für Menschenleben auf dem Mittelmeer.“
Zahlreiche Bürgermeister italienischer Hafenstädte wollen weiter Flüchtlinge aufnehmen. Neapels Bürgermeister Luigi de Magistris erklärte bereits Anfang der Woche über Twitter, „wenn ein herzloser Minister schwangere Frauen, Kinder, alte Menschen im Mittelmeer sterben lässt, ist der Hafen Neapels bereit sie aufzunehmen.“ Doch in der Praxis lässt sich das nicht umsetzen. Die Rettungsschiffe erhalten die Anweisung, welchen Hafen anzusteuern, von der Seenotrettungsleitstelle in Rom – einer Behörde, die der Regierung untersteht. (epd/mig) Aktuell Ausland
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