Migration, Arbeitsmarkt, Illegal, Migranten, Einwanderung, Schwarzarbeit, Spanien
"Zur kommerziellen Normalisierung illegaler Migration" von Dr. Felix Hoffmann, transcript Verlag

Buchtipp zum Wochenende

Kommerzielle Normalisierung illegaler Migration

Illegale Arbeitsmärkte gelten als skandalöse und vermeintlich irreguläre Ausnahmeerscheinungen. Tatsächlich ist diese postkoloniale Arbeitsteilung längst gesetzlich normiert. In seiner Ethnografie der Treibhausindustrie von Almería zeichnet Felix Hoffmann die Taktiken und Strategien illegalisierter Menschen nach.

Von Laura Otto Freitag, 13.04.2018, 6:20 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 15.04.2018, 12:42 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Irgendwo in Deutschland, mitten im Februar, draußen Schneeregen bei minus 2 Grad Celsius: Im Supermarkt liegen Erdbeeren und Spargel in den Frischeabteilungen der Supermärkte aus und es wirkt, als stünde der Sommer vor der Tür. In Almería, Südspanien, haben diese Produkte ihren Ursprung, gezüchtet im Mar del Plástico, im Plastikmeer, im Garten Europas, weit weg von Schnee, Kälte und dunklen nasskalten Wintern – aber unter schier unendlich erscheinenden Treibhausanlagen. Angebaut werden dort Obst und Gemüse unter anderem von Menschen aus Subsahara Afrika, die ohne Papiere in der illegalisierten Arbeit tätig sind.

Zwischen 2006 und 2015 hat Felix Hoffmann die Situation vor Ort ethnografisch beforscht und wohnte dafür teilweise mit seinen Informanten zusammen. Für seine Analysen bezieht er sich auf seine eigenen Notizen, Gespräche, Zeitungsartikel, Gesetzestexte sowie Interviews. Zu seinen Informanten in Spanien gehörten nicht nur geflüchtete Menschen, sondern auch spanische Arbeitgeber*innen und Gewerkschafter*innen; zudem hatte der Ethnologe auch Kontakt zu anwält*innen und anderen Bewohner*innen der Gegend. Im Ergebnis steht also eine Grenzregimeanalyse zu deren größten Herausforderungen es gehört, die Sichtweisen und Perspektiven dieser verschiedenen Akteur*innen zusammenzubringen.

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Ganz normale Menschen

Während die als sogenannte „Wirtschaftsmigranten“ in Europa lebenden Menschen häufig als Bedrohung für die EU und ihre Bevölkerung bzw. den lokalen Arbeitsmarkt, oder aber als Opfer der Verhältnisse verstanden werden, werden sie in kritisch-aktivistischen Diskursen nicht selten heroisiert. Zum erklärten Ziel von Hoffmanns Buch gehört es, einen Gegenentwurf zu diesen herrschenden Repräsentationen von aus diversen Gründen geflüchteter Menschen als Täter-, Opfer- und Helden zu schaffen – denn die Geflüchteten in Hoffmanns Buch verstanden sich selbst, entgegen ihrer diskursiven Besonderung, als “ganz normale“ Menschen.

Hoffman argumentiert, dass der Kampf um diese Normalisierungen, geführt von den Geflüchteten in ihrem Alltag, keineswegs, wie so oft geschieht, als unpolitisch abgetan werden darf, sondern, dass sich gerade in diesen kleinen Schritten auf dem Weg zur “Normalisierung“ zeigen lässt, dass die Geflüchteten eine Überwindung der postkolonialen Europa-Afrika-Beziehungen forderten und den Wunsch nach wirtschaftlicher Gleichberechtigung formulierten. Es geht Hoffmann darum, “normal“ nicht aus westlicher Perspektive zu fassen, sondern diesen Begriff als Spannungsfeld zu erforschen: Der Ethnologe fragt also danach, was seine geflüchteten Gesprächspartner als “normal“ definierten und analysiert ihre Taktiken und Strategien, um den von ihnen definierten Normalzustand zu erreichen. Ferner wird die Frage beantwortet, mit welchen Mitteln die Geflüchteten kämpften und inwiefern dies eigentlich mit den Kämpfen zusammenpasst, die beispielsweise von lokalen NGOs und Gewerkschaften geführt wurden?

Bestandteile derselben Medaille

Der Autor widmet sich der Spannung zwischen Bestrebungen sozialer Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit, vor allem vorangetrieben von NGOs und Gewerkschaften und den Bestrebungen der Geflüchteten, “normal“ – also auch möglichst angepasst und unauffällig – zu leben, was Hoffman als ein eminent bürgerliches Privileg versteht. Strategie und Taktik zu betrachten, denkt Hoffmann als Werkzeuge für seine Analyse und als Bestandteile derselben Medaille, die in unterschiedlichen Situationen in ungleichem Maße zwischen unterschiedlichen Akteuren zum Ausdruck kommen. Es geht dem Autor folglich um ein relationales Machtverständnis und um ein Aushandeln von Macht, in dem auch die Geflüchteten Handlungsmacht ausübten, die im Verlauf des Buches facettenreich beleuchtet wird. Wie diese prekäre Handlungsmacht von anderen Akteur*innen, Strukturen und Prozessen des Grenzregimes beeinflusst wird, wird in Hoffmanns Analyse ebenfalls hervorgehoben.

Zu den wichtigsten Ergebnissen gehört auch die Erkenntnis, dass die geflüchteten Akteur*innen durchaus als “normal“ verstanden, was andere wohl als langweilig bezeichnen würden: einem geregelten Tagesablauf nachgehen, gesetzestreu handeln und das Leben an einem festen Ort verbringen. Sie kämpften nicht gegen bestimmte Verhältnisse, sondern nahmen konziliante Standpunkte ein und unterwarfen sich zeitweise strategisch, um möglichst unauffällig zu bleiben und um im Kleinen zu erreichen, was für sie selbst in dem Moment als beste Lösung der eigenen Situation erschien.

Nähe zu den Akteuren

Das folgende Beispiel verdeutlicht den Mehrwert der Analyse des empirischen Materials vor dem Hintergrund von Strategie und Taktik: Hoffmann zeigt auf, dass es die prekären Lebensumstände der illegalisierten Arbeiter*innen nahezu verunmöglichen, dass sie langfristig strategisch handeln und planen können: Persönlich voranzukommen oder gar den eigenen oder familiären gesellschaftlichen Aufstieg anzugehen, wird immer wieder unterbrochen, da die Geflüchteten im Alltag einem permanenten taktischen Handlungsdruck ausgesetzt sind. Die Notwendigkeit ständig aufs neue kurzfristig zu handeln, durchkreuzt ihre langfristigen Pläne immer wieder im negativen Sinne. Sie müssen folglich ihre Taktiken daran ausrichten, sozial und finanziell nicht weiter abzurutschen, wodurch dann der soziale Aufstieg, der strategisch anzugehen wäre, in weite Ferne rückt.

Hoffmann hat eine nah an den Akteur*innen ausgerichtete Repräsentationsform gewählt, welche beim Lesen eine gewisse Nähe zu den Akteur*innen herstellt. Es gelingt ihm über seine rassismuskritische Haltung immer wieder zu verdeutlichen, dass er als Forschender selbst zum Teil des Geschehens vor Ort geworden ist. Dennoch gelingt es ihm immer wieder überzeugend, sich zu distanzieren und scharfe und nachvollziehbar argumentierte Analysen vorzulegen. Hoffmann hat folglich mit seinem Buch eine detaillierte ethnografische Grenzregimeanalyse mit Fokus auf den illegalisierten Arbeitsmarkt in Almería vorgelegt, in der diverse Akteur*innen zu Wort kommen und keineswegs eine einseitige Betrachtung im Ergebnis steht. Die Schilderungen von Felix Hoffmann sind sehr anschaulich und hervorragend nachvollziehbar, da es ihm gelingt, den O-Ton der Akteur*innen sensibel und detailliert wiederzugeben und passend mit den eigenen analytischen und zusammenfassenden Bemerkungen zu verbinden. Somit trägt der Ethnologe mit seiner Forschung insgesamt zu einer De-Skandalisierung des Flucht_Migrationsdiskurses bei und zeigt auf, dass seine Ergebnisse durchaus auch über den spanischen Kontext hinaus relevant sind, da empirisch und theoretisch fundiert gezeigt wird, wie postkoloniale Arbeitsverhältnisse und sogenannte “illegale“ Arbeitsmärkte als Normalbestandteil gegenwärtiger globaler “Arbeitsteilung“ und Arbeitsverhältnisse zu betrachten sind.

Eine Pflichtlektüre

Methode und Analysestrategien hätten allerdings noch etwas umfangreicher beschrieben werden können, vor allem deshalb, weil sich die Flucht_Migrationsforschung derzeit in einer Phase der Hochkonjunktur befindet und längst nicht alle im Ergebnis so reflektiert und wohlüberlegt sind wie die Forschung von Hoffmann. Seine Überlegungen zur sensiblen Repräsentation und Datenerhebung in politisierten und schwer zugänglichen Feldern stellt für all diejenigen, die ebenfalls in diesen Bereichen forschend aktiv sind, eine Pflichtlektüre dar.

Das Buch ist aber keineswegs ausschließlich lesenswert für Migrationswissenschaftler*innen unterschiedlichen akademischen Niveaus, sondern ist gleichzeitig eine Einladung für uns alle, das eigene Lebensmittelkonsumverhalten zu reflektieren, ohne dabei zu suggerieren, dass es einfache Antworten gebe. So ist diese ethnografische Grenzregimenanalyse ein hervorragendes Beispiel dafür, was kritische Migrationsforschung leisten kann: Nämlich nicht nur die herausfordernde Analyse der sozialen und politischen Verhältnisse, sondern eben auch in Hinblick auf politische Intervention: Welche Folgen entstehen für Geflüchtete, wenn die Gewerkschaften gleichen Lohn für alle einfordern – sie damit jedoch ihren Marktvorteil als billigere Arbeitskraft verlieren würden? Was passiert mit den illegalisierten Arbeitnehmer*innen, wenn irgendwo in Deutschland mitten im Februar nur noch regional eingekauft werden würde? Und schreiben diejenigen, die sich für Geflüchtete einsetzen, im Zweifel eurozentrisch fort, welche Praktiken eigentlich als politischer Kampf Anerkennung finden? Aktuell Rezension

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