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Der Bahnhof von Timisoara (Rumänien) © Janosch Freuding

Spätsommer 2015 & 2017

Reisen durch die Balkanroute

Vor zwei Jahren waren die Züge noch voll mit Flüchtlingen, heute ist scheinbar Ruhe eingekehrt, eine gespenstische Ruhe. Ein Bericht von Janosch Freuding, der im Spätsommer 2015 und 2017 mit dem Zug quer durch den Balkan gereist ist.

Von Donnerstag, 02.11.2017, 6:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 07.11.2017, 17:12 Uhr Lesedauer: 11 Minuten  |  

Spätsommer 2015. Der Morgenzug von Belgrad nach Wien ist gut gefüllt. Einheimische, Geschäftsreisende, Backpacker und viele Flüchtlinge. Heute befinden sich mehr Flüchtlinge im Zug als übrige Reisende. Immer wieder laufen junge Flüchtlinge an den Abteilen vorbei durch den Zug, um Tee oder Kaffee aus dem Bordrestaurant zu holen. Sie taxieren die anderen Reisenden dabei neugierig, genauso wie umgekehrt. In den Gesichtern der Flüchtlinge: Euphorie und Müdigkeit.

Ein junges Mädchen aus Belgien auf Interrailreise ist schockiert. Sie erzählt von einem total überfüllten Sonderzug für Flüchtlinge in Mazedonien, von Flüchtlingen, die ihren Kopf aus dem Fenster strecken, um frische Luft zu bekommen. Mit Wasserflaschen hätten sie versucht, ihnen zu helfen.

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Budapest. Bahnhof Keleti. Im Gedränge der übrigen Reisenden vor dem Informationsschalter versucht eine Flüchtlingsfamilie noch Fahrkarten für einen Zug nach München zu bekommen. „No!“, herrscht sie die Frau an der Info an, „It’s sold out! Look here! It’s sold out!“ Der Mann schimpft auf Arabisch zurück. Seine Frau, mit Kind auf dem Arm, zieht ihn weg. Die Frau an der Information zeigt ihnen den Vogel. Vor dem Bahnhof in der Unterführung zur Metro schlafen weit über 500 Flüchtlinge in verdreckten Deckenlagern auf den bloßen Steinfließen. Die Kinder spielen, die Frauen stillen, die Männer kaufen Saft. Niemand spricht mit ihnen, heißt sie willkommen oder hindert sie daran, hier zu sein. Sie sind einfach da.

In den vergangenen Tagen verschärft sich die Lage mehrfach. Immer mehr Flüchtlinge sammeln sich auf dem Bahnhofsvorplatz, versorgt werden sie von Anwohnern und Touristen. Die Polizei riegelt den Bahnhof ab, lässt niemanden ohne Europa-Visum in das Gebäude. Plötzlich zieht sie sich zurück. Über 1.000 Flüchtlinge stürmen in den Bahnhof, Alte und Junge klettern durch die Fenster, zwängen sich durch die Türen des Zuges, der dann doch nicht fährt.

Es sind Ausnahmezustände. Es sind Zustände, die auch Angst machen können. Angst oder zumindest Sorge liest man in vielen Gesichtern. So viele Menschen, traumatisiert, auf unseren Straßen, in unseren Schulen. Wie soll das auf lange Sicht nur gut gehen? Hilfe ja, natürlich, aber was, wenn die Stimmung kippt? Bringen diese Flüchtlinge nicht ihre eigenen kulturellen Wertemaßstäbe mit, die wir gar nicht wollen? Haben sie nicht völlig überzogene Erwartungen, was sie im neuen Land erreichen können?

Wer im Flüchtlingsbereich arbeitet, sieht diese Ereignisse mit anderen Augen. Da kommen Menschen, keine Zahlen, wie es so schön heißt, mit eigener Geschichte, eigenem Charakter und individuellen Fähigkeiten. Ungefähr ein Drittel von ihnen wird eine sehr Geringe oder gar keine Schulbildung haben, ein Drittel dagegen eine relativ gute. Es ist viel Arbeit und nicht billig, sie in unsere Gesellschaften zu integrieren.

Zwei Jahre später: gespenstische Abwesenheit

Bis hierhin wurden die Zeilen im August 2015 auf einer Bahnreise durch den Balkan geschrieben. Eigentlich sollte es eine Reportage werden über die damalige Flüchtlingssituation in Europa, inklusive ein paar Gedanken zur europäischen Flüchtlingspolitik. Fertig wurde der Artikel nie. Schon ein paar Tage später überschlugen sich die Ereignisse. Die Flüchtlinge vom Budapester Bahnhof machten sich in Massen auf Richtung Österreich und Deutschland. Was danach passiert ist, ist allgemein bekannt.

Im Sommer 2017 reise ich wieder mit einem dieser unfassbar langsamen Züge durch die ungarische Puszta. Die Gleise rattern und die Sonnenblumenfelder ziehen vorbei. Dahinter geht langsam die Sonne unter. Wenn man jetzt mit damals vergleicht, scheint Ruhe eingekehrt. Heute noch einmal die Zeilen von vor zwei Jahren zu lesen, hat durchaus etwas Gespenstisches. Was damals so unmittelbar präsent war, davon heute keine Spur. Es ist, als wäre ein Geist durch Europa gezogen, an den man besser nicht erinnert werden möchte – so als wäre das, was damals passiert ist, nie da gewesen.

Wer heute am Budapester Bahnhof Keleti steht, kann sich kaum vorstellen, was damals für Zustände herrschten. Die Unterführungen unter dem Bahnhofsvorplatz sind leer, die Steinfließen glänzen, ein paar Touristen eilen zur Metro. Nur die Frau an der Bahnhofs-Info ist noch dieselbe. Heute verteilt sie spontan Schokobonbons, während sie uns ein Ticket verkauft.

Auf dieser Reise geht es nicht nach Belgrad, sondern weiter nach Osten. Wir fahren in Richtung Timişoara in Rumänien, nicht weit entfernt vom Drei-Länder-Eck gemeinsam mit Ungarn und Serbien. In Deutschland ist die Grenzregion einigen vielleicht noch als das Gebiet bekannt, in das vor ein paar Jahrhunderten die sog. Banat-Schwaben von Ulm die Donau hinunter einwanderten. Doch Zeiten ändern sich, und so führen heute mitten durch die historische Banat-Region mehrere streng bewachte Grenzen. Der Zug hält zweimal an einer einsamen Grenzstation, mitten im Nirgendwo umgeben von riesigen Feldern. Grenzbeamte klopfen die Räder ab, ob sich unter ihnen jemand versteckt. Mit strengem Blick kontrollieren andere die Reisepässe. Auffallend ist, dass die ungarischen Beamten noch akribischer kontrollieren als die rumänischen.

Nicht weit davon, im serbischen Subotica, haben wir uns vor zwei Jahren beim Grenzübertritt nach Serbien noch über die zwei Reihen Stacheldraht von Präsident Orban lustig gemacht. Ein Theaterregisseur aus Novi Sad zeigte mit dem Finger auf die „Flüchtlingsmauer“ und wir stellten uns vor, wie ein Flüchtling vor dieser knapp einen Meter hohen Einrichtung steht, sich am Kopf kratzt und murmelt: „Ok, hier komme ich nicht weiter. Ich gehe besser zurück nach Afghanistan.“ Absurd.

Inzwischen ist aus dem Stacheldraht eine befestigte Absperrung geworden, viele Weitere sind hinzugekommen und sie ziehen sich quer über den ganzen Balkan. Es wurde ein Flüchtlingspakt mit der Türkei geschlossen, über einen weiteren mit Libyen wird laut nachgedacht, während gleichzeitig Rettungsschiffe von Hilfsorganisationen von der libyschen Küstenwache beschossen werden. Regierende sollte man niemals unterschätzen: Aus der Stacheldraht bewehrten Lachnummer vor Subotica ist ernst geworden.

Nach der Grenzkontrolle: ein leerer Waggon

Vor zwei Jahren auf der Rückfahrt von Belgrad: Bevor der Zug über die Grenze nach Ungarn fuhr, schien er wie gekapert von Flüchtlingen. Unsicher schauten Reisende aus ihren Abteilen, während auf den Gängen Flüchtlinge hin und her liefen, lachend und sich in fremden Sprachen unterhaltend. Nach der Grenzkontrolle bei Subotica waren plötzlich alle Flüchtlinge weg. Jeder, der kein gültiges Visum vorzeigen konnte, wurde aus dem Zug gezogen. Ich ging in den Waggon, wo vorher die Flüchtlinge saßen. Hier saß etwas verloren nur noch ein einsamer Backpacker. Es war ein ulkiges Bild. Er erzählte, wie er – sich streng an seine Platzreservierung haltend – plötzlich einige unerwartete Mitreisende bekam. Nun das leere Zugabteil vor Augen befiel mich zum ersten Mal dieses gespenstische Gefühl. Welche Macht vermag es, Menschen, die gerade noch so übermächtig wirkten, ohne Weiteres aus dem Zug zu entfernen?

Es ist eine absurde Grenze, die laut Orban Europa vor den Flüchtlingen schützen soll. Auf beiden Seiten des Zauns leben Ungarn, sowohl im angrenzenden Serbien als auch im angrenzenden Rumänien lebt eine bedeutende ungarische Minderheit. Auch der Theaterregisseur aus der serbischen Künstlerstadt Novi Sad gehört zu ihnen. Wie er sich jetzt wohlfühlen mag, wenn er die Grenze passiert, um seine Verwandten in Ungarn zu besuchen? Leitartikel Panorama

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