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Mehdi Chahrour © privat, bearb. MiG

Krokodilstränen

Europa und die Christen im Nahen Osten

Das aktuelle Identitätsdilemma europäischer Gesellschaften gefährdet die Zukunft christlicher Minderheiten zwischen Kairo und Bagdad. Die Tränen christlicher Politiker in Europa um die Situation ihrer Glaubensgeschwister sind aber meist nicht mehr als Krokodilstränen. Von Mehdi Chahrour

Von Montag, 15.05.2017, 4:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 16.05.2017, 22:39 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Das Christentum und seine Anhänger sind ein nicht wegzudenkender Bestandteil des Nahen Ostens. Die 2000-jährige Geschichte, der Einfluss auf Sprache und Kultur der Region und die Interaktion mit Anhängern anderer Religionen bilden identitätsstiftende Merkmale für die Völker und Staaten im Nahen Osten.

Es besteht jedoch kein Zweifel darüber, dass die Christenheit im Nahen Osten bedroht und ihre Anhänger mancherorts Gewalt und Verfolgung ausgesetzt sind. Allein im Irak ist die Zahl der Christen seit 2003 von 1,3 Millionen auf ca. 300.000 gesunken. Ursachen sind neben dem Angriffskrieg der USA und die damit verbundenen Folgen, das Erstarken extremistischer Gruppen, die mehrheitlich im sogenannten islamischen Staat (IS) mündeten. Zum ideologischen Fundament des IS gehört die sich aus dem Wahhabismus ergebende Legitimation zur militanten Missionierung und Bekämpfung Andersgläubiger. Die gewaltsame Einnahme der Stadt Mosul hat der Weltgemeinschaft offenkundig vor Augen geführt, was geschehen kann, wenn die wahhabitische Theorie in die Praxis umgesetzt wird:

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Zerstörung von Gebetshäusern, Ermordung von Würdenträgern (mehrheitlich auch muslimischer), Enteignungen, Forderung von Schutzgeld, Massenvergewaltigungen, Folter und Ermordungen. Nicht viel anders sieht es im Nachbarstaat Syrien aus. Gebiete, die unter der defacto Herrschaft militanter Gruppen liegen, erleben eine brutale Schreckensherrschaft, die Minderheiten vor drei bitteren Möglichkeiten stellt: Zwangsanpassung, Flucht, Ermordung.

Folglich befinden sich derzeit mehr christliche Syrer außerhalb Syriens, als in Syrien. Vor dem militanten Aufstand in Syrien lag dort die Anzahl der Christen bei ca. 1,8 Millionen. Heute, 6 Jahre nach den Aufständen, liegt die Gesamtzahl schätzungsweise zwischen 600.000 und 900.000. Da ein Ende des Konflikts nicht in Sicht ist, ist anzunehmen, dass mehr und mehr Christen Syrien verlassen werden. Von Druck und Repressionen betroffen sind auch die Christen in Palästina. Die Folgen der Besatzung wirken sich bis zum heutigen Tage auf die demographische Struktur im heiligen Land aus. Die strukturelle Entchristianisierung Jerusalems ist eine große Wunde christlicher Palästinenser. In diesem Zusammenhang müssen auch die Kopten Ägyptens erwähnt werden, denen Schutz und Sicherheit fehlen. Die letzten Anschläge auf Kirchen haben ein Klima der Angst geschaffen.

Diese dramatische Entwicklung bleibt in Europa nicht unbeobachtet. Viele europäische Politiker, darunter einige deutsche Abgeordnete, beklagen den Zustand in der Ursprungsregion des Christentums. Zu den populärsten gehört in Deutschland Unions-Fraktionschef Volker Kauder.

Es fällt jedoch schwer, den Klagen und Solidaritätsbekundungen aus dem Westen die notwendige Glaubwürdigkeit zu attestieren.  Die Gründe hierfür lauten:

 1. Selektierte Anteilnahme

Auffällig ist, dass es bei empathischen Stellungnahmen aus europäischen Staaten, eine politische Differenzierung gibt. Es geht scheinbar nicht um alle Christen. Die Christen Palästinas, deren Würdenträger sich öffentlich mehrfach über Vertreibung und Drangsalierungen seitens israelischer Behörden beschwerten, finden kein Gehör. Sollte sich die Situation im heiligen Land nicht bald ändern, dann steht die Christenheit in ihrer Geburtsregion vor der Auflösung.

2. Unterstützung der Vertreiber

Ziemlich grotesk kommt es den Christen im Nahen Osten vor, wenn sie hören, dass diejenigen, die sie verfolgen, vertreiben und ermorden, für europäische Regierungen legitime Rebellengruppen sind. Es gilt als erwiesen, dass einige europäische Regierungen, Terroristengruppen in Syrien finanzieren, ausrüsten und den Rücken decken. Solange europäische Regierungen die Verbindung zu den Terroristen nicht endgültig getrennt haben, gehören sie leider zu denen, auf die folgendes arabisches Sprichwort zutrifft: „Sie töteten ihn und nahmen an seiner Beisetzung teil.“

3. Falsche Form der Hilfe

Es ist moralisch geboten und eine rechtliche Pflicht, Verfolgten Asyl zu gewähren. Von daher ist die Aufnahme von Flüchtlingen, unter denen sich geflohene Christen befinden, eine Selbstverständlichkeit. Verwerflich ist jedoch, dass trotz Können die Veränderung der Fluchtursachen unterlassen wird. Das sozio-politische Kalkül, wonach der demographische Wandel Europas durch Zuzug von bestenfalls christlichen Zuwanderern auszugleichen sei, ist ein Spiel mit dem Feuer. Europäische Regierungen, die ihre Fähigkeit bei der Aufrechterhaltung des Konflikts unter Beweis stellten, sollten nun unter Beweis stellen, dass sie Partner bei der Lösungsfindung und bei Schaffung von Sicherheit und Frieden sein können. Darin befindet sich die langfristige und angemessene Unterstützung der Christen im Konkreten und aller Volksgruppen der Region im Allgemeinen.

Als deutscher Muslim, der auch im Nahen Osten zu Hause ist, liegt mir viel an der Vielfalt in der Region. Das Wohlergehen der Christen (gleiches gilt für alle Minderheiten) ist zugleich das Wohlergehen der Muslime.  Der Schutz der Muslime ist nicht vollständig, wenn nicht ebenfalls die Christen geschützt sind. Der Nahe Osten, der die Welt inspirierte und große Persönlichkeiten der Geschichte hervorbrachte, darf nicht im Stich gelassen und weiterhin für politisch-ökonomische Zwecke missbraucht werden. Aktuell Meinung

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  1. President Obama sagt:

    Wer in Deutschland die Verfolgung der Christen in der Welt anprangert, wird seinerseits schnell in die rechte Ecke gestellt. Oder aber es wird sich über die Erhebungsmethoden gestritten, wie dies zB bei OpenDoors der Fall war.

    Ja, die Christen im Irak und Syrien sind verfolgt und ja, sie bekommen auch eine Bleiberecht in Deutschland. In Syrien und im Irak herrscht ein furchtbarer Bürgerkrieg. Dass also Christen aus diesem Land stärker im Focus stehen ist m.E. auch verständlich. Dass nun gerade die Amerikaner allein dafür verantwortlich sind, dass es einen IS und dadurch Christenverfolgung gibt ist mir zu einfach.

    Die IS-Terroristen sind die Kinder syrischer, irakischer, nordafrikanischer usw. Mütter und Väter, größtenteils Staatsbürger eben dieser Länder. Es liegt auch in deren Verantwortung ihre Kinder auf den richtigen Weg zu bringen. Die Schuld grundsätzlicherweise auf den Westen zu schieben und am Besten noch dabei gegen die israelische Siedlungspolitik zu schießen ist schäbig.

    Schiebt doch die Schuldigkeit auf die Saudis oder meinetwegen auf die geistliche iranische Führung… davon hier aber kein Wort.

  2. Oz sagt:

    @obama

    wow. und jemand wie du wundert sich dann, wieso er in die rechte ecke gestellt wird. die deutschen haben hat grundsätzlich ein problem mit rechts und links, weil sie diese begriffe rein populistisch behandeln und sich selbst nicht irgendeinem lager zuordnen wollen.

    aber deine ausssage ist DEFINITIV nicht links, sondern einfach pur einseitig. sie ist rechts.

    zu leugnen, dass amerika und der westlich-christliche krieg seit hundert jahren gegen den islam und alles was östlicher dem westen liegt ist ganz klar, unbestreitbar, mit fakten, zahlen und wissenschaftlichen beweisen belegbarer umstand den „weiße“ christen und „bio-deutsche“ einfach nicht wahr haben wollen und stattdessen alles dem islam an sich und den islamischen staaten zuschieben wollen. der westen sorgt seit jahrzehnten ganz aktiv dafür, dass islamische staaten konstant destabilisiert und unten gehalten werden und damit islamistische und radikale tendenzen ganz klar verstärken und ihr feindbild verstärken.

    als deutscher die rolle der deutschen in internationalen konflikten einfach nicht wahrzunehmen, grenzt an purer blindheit, dummheit, extremen wahrnehmungsproblemen und reiner selbsttäuschung.

    und ja, du bist rechts. nichts rechtsextrem, kein nationalsozialist, keine angst, ich weiss, ihr deutschen habt unglaubliche probleme mit diesen begriffen. aber ja, bitte raff es. du bist zumindest leicht rechts. und sehr rechtspopulistisch, wenn du denkst, das das, was du da oben geschrieben hast wahr ist.

  3. President Obama sagt:

    Unabhängig davon, wie man meine Meinung politisch werten möchte tue ich mich schwer mit Aussagen „ganz klar, unbestreitbar“ etc.

    Nochmal: Amerika und dem Westen ALLEIN die Schuld zu geben ist mir immer noch zu einfach. Die Arabischen Staaten komplett aus der Verantwortung zu nehmen ist auch zu einfach. Auch die Türkei ist nicht unschuldig an zahlreichen Konflikten in der Region. Zu sagen, der Westen sei allein schuldig ist sehr eindimensional und entspricht der Islamistischen Logik. Damit wird ein Schwarz-Weiß-Bild gezeichnet, dass die Realität verzerrt. Im Übrigen bleibe ich bei der Aussage: Wer zu viel von Christenverfolgung durch islamische Kreise Gruppen spricht, gilt in Deutschland schnell als Rassist.

    Wer sich in seinem Handeln auf sein Christsein beruft gilt schnell als Islamophob.

    Ob ich Ihrer Ansicht (Oz) leicht rechts oder rechtspopulistisch bin können Sie für sich entscheiden. Erschreckend ist für mich aber die Wortwahl in Ihrem Kommentar: „Bio-Deutsche“ und „Weiße“ sind Ausdrücke die in den rassischen Kontext gehören und nicht in eine sachliche Diskussion. Das der „Bio-Deutsche“ etwas nicht wahrhaben will kann auch als rassistisch aufgefasst werden, da eine negative Eigenschaft mit einer Rasse verknüpft wird. Das zeigt mir in Diskussionen dieser Art, dass die vermeintlich Toleranten oft Intolerant sind.

  4. Tobi sagt:

    es ist immer Rassismus und Überheblichkeit mit im Spiel
    wenn die Christenverfolgung Erwähnung findet

    dann wird auf Muslime verwiesen und dann gesagt DIE SIND BÖSE UND TUN BÖSES

    der Holocaust, die Ermordung und Unterdrückung der Herero in Namibia und denen wurden die Hände und füsse abgehackt

    waren es auch Muslime ?