Krokodilstränen

Europa und die Christen im Nahen Osten

Das aktuelle Identitätsdilemma europäischer Gesellschaften gefährdet die Zukunft christlicher Minderheiten zwischen Kairo und Bagdad. Die Tränen christlicher Politiker in Europa um die Situation ihrer Glaubensgeschwister sind aber meist nicht mehr als Krokodilstränen. Von Mehdi Chahrour

Das Christentum und seine Anhänger sind ein nicht wegzudenkender Bestandteil des Nahen Ostens. Die 2000-jährige Geschichte, der Einfluss auf Sprache und Kultur der Region und die Interaktion mit Anhängern anderer Religionen bilden identitätsstiftende Merkmale für die Völker und Staaten im Nahen Osten.

Es besteht jedoch kein Zweifel darüber, dass die Christenheit im Nahen Osten bedroht und ihre Anhänger mancherorts Gewalt und Verfolgung ausgesetzt sind. Allein im Irak ist die Zahl der Christen seit 2003 von 1,3 Millionen auf ca. 300.000 gesunken. Ursachen sind neben dem Angriffskrieg der USA und die damit verbundenen Folgen, das Erstarken extremistischer Gruppen, die mehrheitlich im sogenannten islamischen Staat (IS) mündeten. Zum ideologischen Fundament des IS gehört die sich aus dem Wahhabismus ergebende Legitimation zur militanten Missionierung und Bekämpfung Andersgläubiger. Die gewaltsame Einnahme der Stadt Mosul hat der Weltgemeinschaft offenkundig vor Augen geführt, was geschehen kann, wenn die wahhabitische Theorie in die Praxis umgesetzt wird:

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Zerstörung von Gebetshäusern, Ermordung von Würdenträgern (mehrheitlich auch muslimischer), Enteignungen, Forderung von Schutzgeld, Massenvergewaltigungen, Folter und Ermordungen. Nicht viel anders sieht es im Nachbarstaat Syrien aus. Gebiete, die unter der defacto Herrschaft militanter Gruppen liegen, erleben eine brutale Schreckensherrschaft, die Minderheiten vor drei bitteren Möglichkeiten stellt: Zwangsanpassung, Flucht, Ermordung.

Folglich befinden sich derzeit mehr christliche Syrer außerhalb Syriens, als in Syrien. Vor dem militanten Aufstand in Syrien lag dort die Anzahl der Christen bei ca. 1,8 Millionen. Heute, 6 Jahre nach den Aufständen, liegt die Gesamtzahl schätzungsweise zwischen 600.000 und 900.000. Da ein Ende des Konflikts nicht in Sicht ist, ist anzunehmen, dass mehr und mehr Christen Syrien verlassen werden. Von Druck und Repressionen betroffen sind auch die Christen in Palästina. Die Folgen der Besatzung wirken sich bis zum heutigen Tage auf die demographische Struktur im heiligen Land aus. Die strukturelle Entchristianisierung Jerusalems ist eine große Wunde christlicher Palästinenser. In diesem Zusammenhang müssen auch die Kopten Ägyptens erwähnt werden, denen Schutz und Sicherheit fehlen. Die letzten Anschläge auf Kirchen haben ein Klima der Angst geschaffen.

Diese dramatische Entwicklung bleibt in Europa nicht unbeobachtet. Viele europäische Politiker, darunter einige deutsche Abgeordnete, beklagen den Zustand in der Ursprungsregion des Christentums. Zu den populärsten gehört in Deutschland Unions-Fraktionschef Volker Kauder.

Es fällt jedoch schwer, den Klagen und Solidaritätsbekundungen aus dem Westen die notwendige Glaubwürdigkeit zu attestieren.  Die Gründe hierfür lauten:

 1. Selektierte Anteilnahme

Auffällig ist, dass es bei empathischen Stellungnahmen aus europäischen Staaten, eine politische Differenzierung gibt. Es geht scheinbar nicht um alle Christen. Die Christen Palästinas, deren Würdenträger sich öffentlich mehrfach über Vertreibung und Drangsalierungen seitens israelischer Behörden beschwerten, finden kein Gehör. Sollte sich die Situation im heiligen Land nicht bald ändern, dann steht die Christenheit in ihrer Geburtsregion vor der Auflösung.

2. Unterstützung der Vertreiber

Ziemlich grotesk kommt es den Christen im Nahen Osten vor, wenn sie hören, dass diejenigen, die sie verfolgen, vertreiben und ermorden, für europäische Regierungen legitime Rebellengruppen sind. Es gilt als erwiesen, dass einige europäische Regierungen, Terroristengruppen in Syrien finanzieren, ausrüsten und den Rücken decken. Solange europäische Regierungen die Verbindung zu den Terroristen nicht endgültig getrennt haben, gehören sie leider zu denen, auf die folgendes arabisches Sprichwort zutrifft: „Sie töteten ihn und nahmen an seiner Beisetzung teil.“

3. Falsche Form der Hilfe

Es ist moralisch geboten und eine rechtliche Pflicht, Verfolgten Asyl zu gewähren. Von daher ist die Aufnahme von Flüchtlingen, unter denen sich geflohene Christen befinden, eine Selbstverständlichkeit. Verwerflich ist jedoch, dass trotz Können die Veränderung der Fluchtursachen unterlassen wird. Das sozio-politische Kalkül, wonach der demographische Wandel Europas durch Zuzug von bestenfalls christlichen Zuwanderern auszugleichen sei, ist ein Spiel mit dem Feuer. Europäische Regierungen, die ihre Fähigkeit bei der Aufrechterhaltung des Konflikts unter Beweis stellten, sollten nun unter Beweis stellen, dass sie Partner bei der Lösungsfindung und bei Schaffung von Sicherheit und Frieden sein können. Darin befindet sich die langfristige und angemessene Unterstützung der Christen im Konkreten und aller Volksgruppen der Region im Allgemeinen.

Als deutscher Muslim, der auch im Nahen Osten zu Hause ist, liegt mir viel an der Vielfalt in der Region. Das Wohlergehen der Christen (gleiches gilt für alle Minderheiten) ist zugleich das Wohlergehen der Muslime.  Der Schutz der Muslime ist nicht vollständig, wenn nicht ebenfalls die Christen geschützt sind. Der Nahe Osten, der die Welt inspirierte und große Persönlichkeiten der Geschichte hervorbrachte, darf nicht im Stich gelassen und weiterhin für politisch-ökonomische Zwecke missbraucht werden.