"Wir haben nicht ins Schema gepasst"

Schauspieler mit Down-Syndrom erinnert im Bundestag an NS-Morde

Zum ersten Mal wird ein Mensch mit geistiger Behinderung vor dem Bundestag sprechen: Wenn Sebastian Urbanski bei der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus den Brief eines "Euthanasie"-Opfers vorliest, will er zum Nachdenken anregen.

Von Lynn Osselmann Donnerstag, 26.01.2017, 4:21 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 26.01.2017, 17:34 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Als Sebastian Urbanski den Brief von Ernst Putzki das erste Mal liest, wird ihm klar: Es hätte auch er sein können, der da aus der hessischen Sterbeanstalt Weilmünster an seine Mutter schreibt, ihr von dem Hunger, dem Elend, dem Unbegreiflichen berichtet. Sebastian Urbanski hat das Down-Syndrom. Und er hatte Glück, dass er erst 1978 geboren wurde: Er wurde nicht Opfer der „Euthanasie“, der systematischen Ermordung geistig und körperlich behinderter Menschen in der NS-Zeit. Ernst Putzki hatte kein Glück. Er wurde am 9. Januar 1945 ermordet – weil er anders war, weil sein Leben als „unwert“ galt.

Bei der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus am Freitag im Bundestag wird Urbanski den verzweifelten Brief des damals 41-jährigen Putzki vorlesen. „Manche Menschen wollen das, was passiert ist, vergessen. Das dürfen wir nicht. So etwas darf nicht wieder passieren“, sagt der Schauspieler und Synchronsprecher. Die Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus findet seit 1996 jährlich am 27. Januar im Deutschen Bundestag statt. Anlass ist die Befreiung des deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz am 27. Januar 1945. In diesem Jahr stehen die Opfer der „Euthanasie“ im Mittelpunkt der Erinnerung.

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Urbanski ist es gewohnt, auf der Bühne zu stehen – er gehört zum Ensemble des integrativen Theaters RambaZamba in Berlin. Auch in mehreren Filmen hat er bereits mitgespielt. Der Schauspieler ist der erste Mensch mit geistiger Behinderung, der vor dem Deutschen Bundestag sprechen wird. Als er zur Probe in den Bundestag geht – zum ersten Mal in seinem Leben – denkt er sich: „Da sprechen zu dürfen ist eine große Ehre.“

Und auch eine Chance, die er für seine „Mission“ nutzen möchte: „Ich setze mich dafür ein, dass Behinderte gleich behandelt werden wie andere Menschen. Deswegen bin ich auch beim Theater RambaZamba“, erklärt Urbanski. Er weiß, aus welchem Grund damals so viele Menschen ermordet wurden. „Wir haben nicht ins Schema gepasst.“

Heute passiere etwas ähnliches, erzählt Urbanski. Den Schauspieler macht es traurig, dass sich Mütter und Ärzte oftmals für eine Abtreibung entscheiden, wenn sie vor der Geburt von einer Behinderung des Kindes erfahren. „Es ist der gleiche Gedanke wie damals. Das wollen wir nicht.“

Auf die Lesung bereitet sich Urbanski gemeinsam mit der Leiterin des Theaters RambaZamba, Gisela Höhne, vor. Außer beim richtigen Einsatz von Pausen hilft Höhne ihm vor allem, mit den Gedanken beim Brief zu bleiben. „Es geht auch darum, das was da steht zu verstehen. Das ist schon schwierig“, sagt der Schauspieler.

Auch das RambaZamba habe die „Euthanasie“ immer berührt, erzählt Höhne, die selbst einen Sohn mit Down-Syndrom hat. „Das Thema ‚Euthanasie‘ ist für uns kein Vergangenes.“ Zwar würden Menschen mit Behinderungen heute weniger ausgegrenzt. „Gleichzeitig kommen immer weniger Menschen mit Down-Syndrom zur Welt.“ Viele Menschen hätten immer noch nicht verstanden, dass Behinderte wichtige Teile der Gesellschaft seien.

Um zu zeigen, dass es so ist, sei das Theater ein tolles Mittel. „Denn man sieht die Menschen, man hört sie“, erklärt die Theater-Regisseurin. Deshalb findet es auch Urbanski so wichtig, vor dem Bundestag zu sprechen: „Die Menschen sollen nicht die Augen verschließen. Sie sollen uns sehen.“

Eines betont der Schauspieler immer wieder: „Ich möchte nicht nur an die Taten erinnern. Sondern auch an die Menschen, die gestorben sind.“ Auch bei der Gedenkstunde des Bundestags soll den Verstorbenen ein Gesicht gegeben werden. Als Redner werden neben Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) auch Sigrid Falkenstein und Hartmut Traub erwartet, Angehörige von „Euthanasie“-Opfern.

Falkenstein ist die Nichte von Anna Lehnkering, die 1940 in der Tötungsanstalt Grafeneck in Baden-Württemberg ermordet wurde. Traubs Onkel Benjamin Traub wurde 1941 in der hessischen Tötungsanstalt Hadamar umgebracht. Beide rekonstruierten den Lebens- und Leidensweg ihrer Angehörigen.

Sowohl Sigrid Falkenstein als auch Hartmut Traub schrieben danach ein Buch darüber – sie setzen sich gegen das Vergessen ein. Auch Urbanski möchte bei der Gedenkstunde erinnern – wenngleich er sich noch ein bisschen mehr wünscht: „Ich hoffe, dass es ‚klick‘ macht bei den Leuten.“ (epd/mig) Aktuell Feuilleton

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