Nach dem Brexit-Votum

Jüdische Briten beantragen deutsche Pässe

Wegen des Brexits denken in Großbritannien viele Juden, deren Vorfahren vor den Nazis flohen, über eine Einbürgerung in Deutschland nach - um EU-Bürger zu blieben. Das Grundgesetz bietet ihnen die Möglichkeit dazu. Von Christiane Link

Freitag, 20.01.2017, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 25.01.2017, 17:06 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Noch vor einem Jahr hätte sich Lianna Etkind nicht vorstellen können, über die deutsche Staatsbürgerschaft auch nur nachzudenken. Mit dem Brexit-Referendum hat sich das geändert: Die 32-Jährige ist eine von Hunderten jüdischen Briten, die die deutsche Botschaft in London kontaktiert haben, um sich über die Einbürgerung als deutsche Staatsangehörige zu informieren – und so EU-Bürger bleiben zu können. Bis zum Ende des Jahres hat die Botschaft schätzungsweise 550 Anträge an das Bundesverwaltungsamt weitergeleitet. Früher waren es gerade einmal 25 Anträge im Jahr.

Der Artikel 116 des deutschen Grundgesetzes ermöglicht früheren deutschen Staatsangehörigen, „denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist“, sowie ihren Nachfahren, sich wieder einbürgern zu lassen. Lianna Etkind stammt aus einer jüdischen Familie. Ihr Großvater Ludwig Halberstadt musste 1939 aus Halle an der Saale vor den Nazis fliehen. Die Britin hat den Opa, der sich nach der Ankunft in Großbritannien Lionel Hulbert nannte, nie kennengelernt. Er starb vor ihrer Geburt, aber die Familiengeschichte war ihr immer im Bewusstsein.

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Viel zu tun in der deutschen Botschaft

Nach dem Referendum im Juni, bei dem die Briten für einen Austritt aus der Europäischen Union stimmten, hatte die deutsche Botschaft dann viel zu tun. Die Botschaft habe seit dem 24. Juni „einen erheblichen Anstieg an Nachfragen und Anträgen im Zusammenhang mit Einbürgerungsanträgen auf Grundlage des Artikel 116 Absatz 2 Grundgesetz festgestellt“, heißt es im Auswärtigen Amt in Berlin. Auch Etkind hat Kontakt aufgenommen und sich über die notwendigen Unterlagen informiert.

„Ich habe dafür geworben, dass wir in der EU bleiben“, sagt sie. „Egal wie mein Land abgestimmt hat, ich fühle mich weiterhin als Europäerin.“ Sie müsse aber zugeben, dass sie nicht viele Verbindungen nach Deutschland habe. „Ich spreche die Sprache nicht und ich war noch nicht oft dort. Ich war nur einmal mit meiner Familie in Halle, um zu sehen, wo mein Großvater gelebt hat, und auf einer Konferenz in Berlin.“

Einstellung zu Deutschland verändert

Aber besonders im vergangenen Jahr habe sich ihre Einstellung zu Deutschland verändert: Sie habe gesehen, wie Deutschland Flüchtlinge aufgenommen habe, „nicht nur die Regierung, sondern ganz normale Deutsche haben mit soviel Gastfreundschaft reagiert, während Großbritannien die Anzahl der aufgenommen Flüchtlinge stark eingeschränkt und seine Grenzen zugemacht hat“, sagt sie: „Seitdem empfinde ich großen Respekt für Deutschland.“ Ihre eigene Existenz verdanke sie der Tatsache, dass Großbritannien ihren Großvater damals aufgenommen hat, als er selbst ein Flüchtling war.

Die Einbürgerung hätte für sie etwas von einem „befriedigenden Kreis“, der sich 70 Jahre nach der Schoah schließe. „Ich fühle mich britisch, das ist Teil meiner Identität“, aber die deutsche Staatsangehörigkeit anzunehmen, sei für sie ein Zeichen von Offenheit und Europäischsein. Dennoch frage sie sich, ob es nicht ein leeres Symbol sei.

Der praktische Nutzen überwiegt

Die Vereinigung jüdischer Flüchtlinge in London unterstützt ihre Mitglieder bei den Einbürgerungsanträgen. Sie hätten dazu immer mehr Anfragen bekommen, sagt Geschäftsführer Michael Newman. „Viele der Menschen haben eine starke Verbindung zu Deutschland und das Gefühl, etwas zurückzubekommen, was zu ihnen gehört“, sagt er. Natürlich hätten manche auch Bedenken, und es gebe Diskussionen in Familien, aber am Ende wiege der praktische Nutzen meist schwerer.

Auch Lianna Etkinds Freunde unterstützten sie. Einige versuchten selbst, einen irischen Pass zu bekommen und recherchierten die Herkunft ihrer Vorfahren in der Hoffnung, die Voraussetzungen für einen EU-Pass zu erfüllen, sagt sie. Endgültig entschlossen, ob sie den Antrag wirklich stellen wird, ist sie zwar noch nicht. „Aber in jedem Fall hat mich der Entscheidungsprozess dazu animiert, mehr über meine Familiengeschichte und meine Wurzeln zu erfahren.“ (epd/mig) Leitartikel Panorama

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