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Bozay, Kemal / Aslan,Bahar/Mangitay, Orhan/Özfirat, Funda (Hg.): Die haben gedacht, wir waren das © PapyRossa Verlag

Rezension zum Wochenende

Die haben gedacht, wir waren das – MigrantInnen über rechten Terror und Rassismus

Ein neuer Sammelband über den NSU-Komplex und Rassismus lässt explizit Migranten zu Wort kommen und sammelt damit die verschiedensten Stimmen. Yunus P. Özak hat das Buch rezensiert.

Von Freitag, 13.01.2017, 5:19 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 15.01.2017, 20:14 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Über den NSU-Komplex sind bereits mehrere Bücher geschrieben worden. Einige, wie etwa Heimatschutz von Stefan Aust und Dirk Laabs, fokussieren sich auf die Täter und ihr Umfeld um eine Chronik der Ereignisse um die Morde und Anschläge des NSU zu erstellen, andere bieten wissenschaftliche Analysen zum NSU und der rechtsextremen Szene und wieder andere füllen die vielen offenen Fragen zum NSU-Komplex mit absurden Verschwörungstheorien. Die Stimmen der Opfer und ihrer Angehöriger fanden hierbei oft nur wenig Beachtung. Nur zwei Bücher haben sich dem bisher ausführlich gewidmet: Semiya Şimşeks, die Tochter des als erstes vom NSU ermordeten Enver Şimşek, Autobiographie „Schmerzliche Heimat“, sowie der Sammelband „Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen“, der Beiträge von Hinterbliebenen der Opfer des NSU und von Überlebenden der Anschläge beinhaltet.

Nun gesellt sich ein drittes Buch hinzu, das der Betroffenenperspektive viel Platz einräumt, also der Sichtweise derer, gegen die sich der NSU-Terror nicht zuletzt richtete: In dem Sammelband „Die haben gedacht, wir waren das“ schreiben Migranten über den rechten Terror des NSU und anderer rechtsterroristischer Bewegungen, sowie über den in Deutschland verbreiteten Rassismus in Institutionen und im Alltag. Dabei variieren die Texte in Form und Inhalt von wissenschaftlicher Publikation bis hin zu Erzählung persönlicher Erfahrungen. Die Autoren kommen aus verschieden Bereichen: Politiker etablierter Parteien, Journalisten, Wissenschaftler und Aktivisten geben hier ihre Gedanken wieder und schreiben über ihre eigenen Erfahrungen mit Rassismus und der Aufarbeitung der NSU-Morde.

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Die Mitherausgeberin Bahar Aslan beispielsweise schreibt in „Eingebrannt in die Erinnerung: Solingen, Sivas, NSU“ über ihre Wahrnehmung der rechtsextremen Brandanschläge in Sivas, Mölln, Solingen usw. als Kind Anfang der 1990er und zieht eine Linie von dort zu ihren Empfindungen bei der Selbstenttarnung des NSU-Kerntrios und der unzureichenden Aufklärung der Mordserie. Auch Özge Pınar Sarp verbindet in ihrem Text „Trauer und Wut, aber noch mehr die Entschlossenheit: wir bleiben hier“ die NSU-Morde mit rassistischen Morden in den 1980ern und 1990ern und berichtet u.a. über den unterschiedlichen Umgang von Hinterbliebenen mit der Frage, ob man nach so einer Tat in Deutschland bleiben könne oder nicht.

Die insgesamt etwa 40 Beiträge, alle von Migranten, spiegeln dadurch auch die Unterschiedlichkeit der Sichtweisen von Migranten auf den NSU und Rassismus wieder: Wenn die Berichterstattung über den NSU-Komplex kritisiert wird, ist oftmals von der nicht ausreichend beachteten Betroffenenperspektive die Rede – dem durch Erfahrung erlangtem Wissen von Migranten über Nazis und Rassismus werde nicht genügend Platz eingeräumt. Stattdessen werde sich ausschließlich auf die Täter und vor allem auf Beate Zschäpe konzentriert. Dass die Perspektive von Betroffenen durchaus unterschiedlich ausfallen kann, wird in dem Sammelband gut deutlich: Von einem unbeirrbaren Glauben an die staatlichen Institutionen, über vollkommene Resignation bis zu verschwörungstheoretisch anmutenden Vermutungen sind diverse Positionen in dem Buch versammelt.

Hierdurch werden auch Stimmen laut, die bisher nur wenig beachtet wurden: Miltiadis Oulios schreibt über das weitgehende Schweigen der griechischen Community über den Mord an Theodoros Boulgarides, der von allen Seiten, einschließlich vieler Griechen, oft vergessen wird, wenn es um die Opfer des NSU geht, obwohl auch hier die Ermittlungen von rassistischen Stereotypen beeinflusst waren und sich lange gegen Freunde und Familie des Ermordeten richteten; Murat Çakır vergleicht Äußerungen und Handlungen von Politikern und Medien in der Türkei vor der Selbstenttarnung des NSU und danach und attestiert ihnen daraus schließend eine Doppelmoral, da sie vor dem Bekanntwerden der NSU-Morde als eine rassistische Mordserie die in Deutschland vorherrschende Lesart von Organisierter Kriminalität und PKK-Kontakten allzu gerne wiedergaben; Kutlu Yurtseven erzählt in „Tradition – oder: Denke ich an die Keupstraße“ persönlich und eindringlich, wie eng die Keupstraße in Köln mit seinem Leben verbunden ist und was sie in seinen Eltern, türkischen Migranten der ersten Generation, hervorrief. Genauso eindringlich ist dann seine Erzählung von dem Bombenanschlag des NSU auf der Keupstraße und von der folgenden Kriminalisierung der Anwohner.

Die Möglichkeit eines Sammelbandes, unterschiedliche Positionen zu versammeln, wirkt sich jedoch manchmal auch negativ auf den Stil aus: Viele der etwa 40 Beiträge beginnen mit einer Aufzählung der Taten des NSU oder einer kurzen Chronik bis zur Selbstenttarnung 2011. Dieser einleitende Überblick bleibt für das Buch als Ganzes zwar unerlässlich, ist jedoch ermüdend, wenn er sich wie hier alle paar Seiten wiederholt. Hier wäre eine stärkere redaktionelle Vorgabe wünschenswert gewesen. Zudem lässt sich nicht sagen, dass alle Beiträge gelungen wären: Über einige Texte kann man sich ärgern und an vielen Stellen würde man gerne darüber diskutieren. Dies bedeutet zuerst einmal eine inhaltliche Schwäche des Buches, jedoch spiegelt dies auch die Pluralität dessen wider, was so oft als Betroffenenperspektive zu einheitlich dargestellt wird.

Es wäre jedoch auch ein Fehler, das Buch auf die Betroffenenperspektive zu reduzieren, so gut und plural diese auch dargestellt wird: Nicht alle Autoren schreiben über persönliche Erfahrungen und viele von ihnen sind etablierte Journalisten, Wissenschaftler etc. Würde man sie hier wieder darauf reduzieren, Betroffene, das heißt Migranten, zu sein, würde man sie in ihrer fachlichen Rolle nicht ernst nehmen.

Auch nicht-Migranten schrieben bereits kluge Bücher über den NSU-Komplex und warten bei Vorträgen mit einer Fülle an Detailkenntnissen und genauen Analysen über die extreme Rechte und Rassismus in Deutschland auf. Dieses Buch verbindet solche Gesellschaftsanalysen mit persönlichen Geschichten und Erfahrungen mit Rassismus von den 1980er Jahren bis heute. Gerade weil während der Ermittlungen zur NSU-Mordserie die Betroffenen kriminalisiert wurden und auf ihre Hinweise zu einem rassistischen Motiv nicht eingegangen wurde, füllt die Verbindung von in Teilen kritischer Gesellschaftsanalyse und Betroffenenperspektive eine wichtige Lücke. Aktuell Rezension

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