Synagoge, Stern, David, Kuppel, Religion
Eine jüdische Synagoge © Will Palmer auf flickr.com (CC 2.0), bearb. MiG

"Lieber Gott, mach..."

Vor Rosh Hashana schicken viele Juden ihre „Briefe an Gott“ nach Jerusalem

Putztag im Postfach des Himmels: Zweimal im Jahr werden die schriftlichen Bittgesuche an Gott aus den Ritzen der Jerusalemer Klagemauer entfernt, an Pessach und an Rosh Hashana. Damit wird Platz geschaffen für neue Botschaften an den Herrn.

Von Susanne Knaul Freitag, 30.09.2016, 8:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 03.10.2016, 16:01 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

„An Gott“, „Klagemauer“ oder einfach nur „Israel“ steht als Adresse auf unzähligen Briefen aus aller Welt, die in Israel ankommen. Es sind Bittgesuche von gläubigen Juden. Die Post leitet sie weiter an Schmuel Rabinowitz – er ist Rabbiner der Klagemauer in der Jerusalemer Altstadt und steckt die Bögen und Zettel in die Ritzen der Mauer. Denn die Westmauer des vor 2.000 Jahren zerstörten Tempels gilt für Juden als eine Art Briefkasten des Himmels. „Von Jahr zu Jahr erreichen uns mehr Briefe und E-Mails, die wir ausdrucken, es sind mehrere Millionen“, erzählt der 46-jährige Rabbiner.

Zweimal im Jahr wird Platz geschaffen für neue Bittgesuche, an Pessach und zum jüdischen Neujahrsfest Rosh Hashana, das in diesem Jahr vom Abend des 2. Oktober bis zum 4. Oktober gefeiert wird. Rabbi Rabinowitz greift dann selbst mit zum Holzstab und kratzt die zahllosen Zettel aus dem alten Gemäuer.

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Meter für Meter arbeiten sich der Rabbiner und seine Helfer durch die vollgestopften Ritzen die Mauer entlang und lassen kleine Berge von eng gefalteten Papierbögen hinter sich. Jeder einzelne birgt die Hoffnung, Gehör zu finden. Die Männer achten sehr darauf, dass niemand die Botschaften liest.

„Es geht bei vielen sicher um Gesundheit“, sagt Rabbi Rabinowitz, der schon seit 20 Jahren für die Klagemauer zuständig ist und die Sorgen der Menschen kennt. „Manche machen sich Gedanken um den Lebensunterhalt, um die Kinder, es gibt Leute, deren Söhne in der Armee sind, andere wünschen sich einen Ehepartner und manchmal ist es ganz einfach nur ein Streit mit dem Nachbarn, der sie belastet.“

Die Briefe an Gott werden nach ihrer Zeit an der Klagemauer nicht einfach weggeworfen oder gar verbrannt, sondern gesammelt und auf dem Ölberg vergraben. „Wir tun das aus Respekt vor den Absendern“, sagt Rabinowitz.

Bei manchen Botschaften muss sich Gott sehr beeilen, bevor sie wieder aus seinem Postfach verschwinden. Denn gerade kurz vor dem jüdischen Neujahrsfest Rosh Hashana kommen die meisten Briefe. Die zehn Tage zwischen dem Neuen Jahr und dem Versöhnungstag Jom Kippur bieten gläubigen Juden eine letzte Gelegenheit, in sich zu gehen und offene Streitigkeiten zu begleiten, bevor Jahresbilanz gezogen wird.

„Gmar Chatima tova“, so lautet das hebräische Grußwort in dieser Zeit – es ist der Wunsch für eine gute „Einschreibung ins Buch des Lebens“. Der ein oder andere Briefeschreiber wird darum wohl in seiner Botschaft an Gott um Verzeihung für moralisches Fehlverhalten im vergangenen Jahr bitten.

Rabinowitz meint sogar schon von Fußballfans gehört zu haben, die sich in ihren Bittgesuchen wünschen, der Club Hapoel Haifa möge das nächste Spiel gewinnen. „Auf die bin ich ein bisschen neidisch“, sagt er und lacht, „weil sie offensichtlich keine anderen Probleme haben“.

Schon vor 2.000 Jahren, so berichtet er, seien die großen Religionsgelehrten zusammengekommen, weil „sich die Leute schwer mit dem Gebet taten“. Damals sei über einheitliche Texte entschieden worden, angefangen mit dem Morgengebet „Schacharit“ und Psalmen.

Die Idee, den individuellen Wunsch schriftlich zu formulieren und via Klagemauer an Gott zu „schicken“, ginge auf den 1696 in Marokko geborenen Rabbi Chaim ben Attar zurück: „Der Tradition nach war er der erste, der einen Zettel in die Klagemauer gesteckt hat.“

Gott lasse keine Anfrage unbeantwortet, und zwar ausnahmslos, ist Rabbi Rabinowitz überzeugt. Nur manchmal geschehe das auf eine Art, die der Bittsteller gar nicht beabsichtigt habe: „Wir denken immer, dass wir am besten wissen, was gut für uns ist. Aber das stimmt oft nicht.“ Es sei immer gut, die Wünsche zu formulieren, rät er, auch wenn Gott natürlich auch so wisse, was für die Menschen gut sei.

Auch er selbst wendet sich „jeden Tag mit einer ganzen Liste von Belangen an Gott“, wie er zugibt. Zettel in die Klagemauer steckt der Rabbi aber nicht: „Ich kommuniziere ganz gut auch ohne Notizen mit Gott.“ (epd/mig) Aktuell Feuilleton

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