Kaffee, Espresso, Tasse, Kaffeemaschine
Kaffee © adam willson auf flickr.com (CC 2.0)

Ausbildung

Kaffee kochen im Kaff

Vor zehn Jahren entfloh Reza den Taliban, heute lebt er in Deutschland. Und hilft hier einer Branche, die ein echtes Problem hat und Flüchtenden eine optimale Ausgangslage bietet - eigentlich. Von Lea Wagner

Von Dienstag, 05.07.2016, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 07.07.2016, 20:38 Uhr Lesedauer: 9 Minuten  |  

Die rund 300 Kaffee, die Reza jeden Tag macht und die an seinem Arbeitsplatz, dem Hamptons im bayerischen Memmingen, nicht einfach nur Kaffee heißen, sieht man ihm nicht an. Seine Uniform, marineblauer Pullover mit V-Ausschnitt, hellblaues Hemd und gestreifte Krawatte, lassen ihn wie den Rezeptionisten eines Nobelhotels wirken. Die schwarzen Haare: akkurat geschnitten und im Nacken ausrasiert. Breitschultrig und mit aufrechtem Oberkörper steht er hinter der Bar und nippt am Strohhalm einer Acqua-Panna-Flasche. Nur aus der Nähe sieht man, dass Reza erst 17 ist: Ein Rest Babyspeck säumt die Wangen. Wenn er lacht, hat er Pausbacken.

„Zwei Latte macchiato, einen Espresso und einen Milchkaffee mit laktosefreier Milch“, ruft ihm eine Kollegin zu. Reza legt los, seine Bewegungen sind bestimmt, manchmal ein wenig zu schwungvoll. Dann verschüttet er Kakaopulver, lässt Milchschaum über den Rand der Tasse laufen und stellt Gläser mit so großem Elan auf die Marmorplatte, dass sie scheppern. Reza hat es eilig.

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Dass er Kaffee kocht, liegt an den Taliban. Er kommt aus Maidan Wardak, einer Provinz, die das afghanische Innenministerium als Hochrisikozone einstuft, so stark ist der Einfluss der Taliban. „Sie wollen unser gesamtes Dorf zerstören. Wenn sie könnten, würden sie uns alle umbringen“, sagt Reza, während er eine Orange in feine Scheiben schneidet – als Dekoration für ein Tee-Gedeck.

Die Taliban töteten seinen Vater, als Reza sieben war. Reza ging daraufhin mit einer Bekannten seiner Eltern nach Kabul. Um Geld zu verdienen für die Familie. Er fand einen Job in einer Bäckerei, als Teiganrührer. Ein wenig Geld war noch übrig, damit konnte er zwei Jahre zur Schule gehen. Zusammen mit 50 Mitschülern zwischen 8 und 15 lernte er lesen und schreiben. Der Unterricht fand auf dem Fußboden statt, ohne Tische und Stühle.

Nach zwei Jahren zog Reza weiter in den Iran, mehr Geld verdienen. Damals war er zehn. Ein Onkel lebte schon länger in Teheran und besorgte Reza einen Job in einer Schmuckfabrik. Mit 14 beschloss Reza, dass es nun Zeit war für den großen Sprung: Europa. Er nahm Kontakt zu einem Schlepper auf, „wie das alle machen“. 3.000 Euro verlangte der. Reza lieh sich Geld von seinem Onkel. Der Schlepper brachte Reza übers Mittelmeer und dann von Italien nach Österreich. Ab da musste er sich allein durchschlagen. Er nahm einen Zug nach Lindau, von wo er weiter gen Hamburg wollte. „Ich hatte gehört, dort leben viele Afghanen.“ Am Fahrkartenautomaten nahm ihn die Polizei fest. Sie durchsuchte und verhörte ihn, übergab ihn dem Jugendamt, er war ja erst 14. Drei Jahre ist das jetzt her. Über die Reise und seine Zeit in Libyen spricht Reza nicht gern.

Die Behörden schickten ihn an den Rand des Allgäus, nach Memmingen. Anfangs lebte er in einer Wohngruppe mit Betreuer. Dann zog er in ein Ein-Zimmer-Apartment der Jugendhilfe-Einrichtung um. Er muss einkaufen, kochen, putzen, waschen. Vier Stunden Deutschunterricht pro Woche erhielt er zu Beginn. Nach nur drei Monaten kam er in eine reguläre Hauptschule, achte Klasse. Er verstand erst wenig, büffelte aber jeden Nachmittag am Computer Deutsch. Nach eineinhalb Jahren schaffte er den Hauptschulabschluss.

Latte macchiato im Weinkelch

Er wollte weitermachen bis zur mittleren Reife. Doch die Lehrer rieten ab: Sein Deutsch sei nicht gut genug. Reza machte Praktika, unter anderem in einem Autohaus. Dort wäre er gern geblieben, doch der Inhaber wollte ihm keine Lehrstelle anbieten, wegen fehlender Sprachkenntnisse. Rezas damalige Betreuerin Helga Dittmann sagt: „Damals war nicht klar, wie es weitergehen soll. Reza erschien mir etwas orientierungslos.“

Eines Nachmittags ging sie mit Reza spazieren. Sie kamen am Hamptons vorbei: Café, Restaurant, erste Adresse am Marktplatz. Buchsbäume und Rattanmöbel auf der Terrasse, Schwarz-Weiß-Fotografien von Audrey Hepburn an den Wänden, die Speisekarte voller englischer Begriffe. Der Latte macchiato wird auf Wunsch im Weinkelch serviert, garniert mit einem Rosenblatt. Preis: vier Euro. Reza war skeptisch, doch seine Betreuerin schubste ihn durch die Tür und steuerte auf Inhaberin Christina Rau zu. Die ließ Reza ein Praktikum machen. Das lief so gut, dass Rau ihm eine Lehrstelle zum Restaurantfachmann anbot. Ein halbes Jahr ist das nun her.

Reza arbeitet fünf Tage pro Woche, um die acht Stunden täglich. Dafür bekommt er 125 Euro. Eigentlich ist die Ausbildungsvergütung höher, doch das meiste muss er an das Jugendamt abtreten, unter anderem für seine Unterkunft. Reza gibt kaum etwas für sich aus, hin und wieder leistet er sich Zigaretten. Eine Zeit lang ging er ins Fitnessstudio. Er spielt auch gerne Fußball. Kostet nichts. Seinen vier Geschwistern schickt er regelmäßig Geld. Seit dem Tod der Mutter letztes Jahr fühlt er sich noch mehr für sie verantwortlich. Woran seine Mutter starb, weiß Reza nicht. Immer wieder hatte sie über Kopf- und Bauchschmerzen geklagt. Erst als sie eine Woche tot war, erfuhr Reza davon. „Er hat sich damals wochenlang in seinem Zimmer vergraben, bei heruntergezogenen Jalousien im Bett gelegen“, erinnert sich Dittmann.

Heute scheint die Lethargie verflogen. Reza räumt die Spülmaschine ein und scherzt mit einem Mann, der am Tresen Espresso trinkt. Gerade will er selbst an einem Cappuccino nippen, da ruft ihm ein Kollege schon die nächste Bestellung zu. Heute ist viel zu tun, die Sonne scheint, auf der Terrasse ist jeder Platz besetzt. Aber Zeit für eine Zigarette muss sein. Die raucht er am Küchenausgang neben den Mülltonnen. Der Stress stört ihn so wenig wie das dürftige Gehalt. „Klar hätte ich gern mehr, dann könnte ich meinen Führerschein machen. Aber wichtig ist jetzt erst mal, meine Lehre abzuschließen.“

Nicht alle sind so vernünftig. Immer mehr Ausbildungsplätze in der Gastronomie bleiben unbesetzt. 2015 meldete die Bundesagentur für Arbeit knapp 1.700 offene Lehrstellen als Restaurantfachfrau oder -mann. Deshalb fordert der Hotel- und Gaststättenverband Dehoga, die Liste der Mangelberufe um solche im Gastgewerbe zu erweitern. Eine optimale Ausgangslage für Flüchtlinge – eigentlich. Aber damit mehr Restaurants sie einstellen, sei Planungssicherheit unabdingbar, sagt die Dehoga-Geschäftsführerin Sandra Warden. „Es muss gewährleistet sein, dass ein junger Mensch, der eine Ausbildung beginnt, diese auch beenden kann. Im Idealfall sollte er mindestens zwei Jahre nach Ausbildungsabschluss das Recht auf eine Arbeitsgenehmigung haben.“ Seit Jahren fordern Wirtschaftsverbände diese „3-plus-2-Regel“. Ende Mai soll sie vom Kabinett beschlossen werden.

Im Allgäu beschäftigen viele Betriebe schon jetzt Asylbewerber als Lehrlinge. Das hat mit der hiesigen Industrie- und Handelskammer und deren Pilotprogramm „Junge Flüchtlinge in Ausbildung“ zu tun: Dank diesem konnten bereits über 90 Asylbewerber und Flüchtlinge einen Ausbildungsvertrag unterschreiben.

Rezas Chefin Christina Rau war die fehlende Planungssicherheit egal. „Ich wollte Reza eine Chance geben.“ Und das, obwohl Rau anders als die meisten ihrer Kollegen keine Probleme hat, offene Stellen zu besetzen. Auf einen Job kommen 20 Bewerbungen. Noch könnte ihr Reza jeden Tag wegbrechen. Bisher ist er nur „gestattet“, sein Asylverfahren läuft. Seit drei Jahren wartet er auf seine Anhörung. „In der Hinsicht bin ich enttäuscht von Deutschland. Ich hatte gedacht, wenn ich mich nur genug anstrenge, würde schon alles klappen.“ Er sagt das sehr leise, während er Gläser abtrocknet. Er will nicht als undankbar gelten.

Wie in der Puppenstube

Es ist nun vier Uhr nachmittags. Eine Pause hat er noch immer nicht gemacht, dafür darf er heute früher gehen. In Windeseile tauscht er seine Arbeitskleidung gegen Jeans, T-Shirt, Sneakers, schnappt sich seine Tasche und holt sich auf dem Weg nach draußen noch schnell sein Mittagessen ab. Der Koch hat es ihm in Alufolie verpackt.

Sein Heimweg führt durch Memmingens Altstadt: bunte Häuser, blank gefegtes Kopfsteinpflaster, Menschen sitzen in der Sonne. Puppenstubenatmosphäre mit Glockengeläut. Reza ist genervt von so viel Niedlichkeit. „Drei Jahre in diesem Kaff sind genug. Ich hätte jetzt Lust auf Großstadt.“ Sein Apartment liegt in einer Wohngegend am Stadtrand gegenüber einem Altenheim. Das Haus ist gelb und von viel Grün umgeben. Rattern unterbricht die Stille, hinter dem Haus verlaufen Bahngleise.

Rezas Wohnung ist geräumig. Die Nachmittagssonne taucht den Raum in warmes Licht. An der Wand hängt die afghanische Flagge, daneben eine leicht abgeänderte Version: gleiche Farben, andere Reihenfolge. Beide selbst gemalt. „Ich war mir nicht mehr sicher, wie die Flagge richtig geht“, sagt Reza mit vollem Mund. In Tennissocken auf dem Sofa lümmelnd schiebt er zwei Tortellini auf einmal in den Mund. Drei Schachteln Zigaretten liegen auf dem Tisch, bewacht von zwei Kuscheltieren, einem Hasen und einem Igel – Geschenke der Heimleitung. Im Regal steht Proteinpulver – und eine Flasche Wodka.

„Eigentlich schmeckt mir Alkohol nicht.“ Reza und die Religion, das ist kompliziert. „Ja, ich bin Muslim“, sagt er. Und schiebt zögerlich hinterher: „Auch wenn das hier alles nicht so einfach ist.“ „Das“ meint etwa den Ramadan, den Reza nach drei Tagen abbrechen musste. „Hier ist es zu lange hell, um den ganzen Tag zu fasten.“ Dann verschwindet er abrupt ins Bad, schnappt sich seine Fußballschuhe und verlässt die Wohnung.

Unten vor dem Haus wartet Tobi, sein engster Freund. Tobi ist ebenfalls 17, er wohnt nur eine Etage unter Reza. Vorher war er in mehreren Wohngruppen. „Ich hab in meiner Jugend ziemlich viel Scheiß gebaut“, sagt er. Fast jeden Nachmittag spielen sie Fußball. Der Platz ist eigentlich nur eine Wiese zwischen Wohnsiedlung und Gleisen. Am einen Ende wacht eine Jesus-Figur über die Spieler. Hier treffen sich Reza und Tobi mit drei weiteren Jungs aus Afghanistan, alle minderjährig, alle allein in Deutschland – so wie zurzeit um die 60.000 Jugendliche laut dem Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge.

Reza ist der stärkste Spieler der Gruppe. Schnell, wendig, konzentriert. Und vor allem: willensstark. Er und Tobi bilden ein Team. Eine Stunde kicken sie, dann wird es zu kalt. Reza geht zurück in seine Wohnung, um mit seinen Geschwistern zu skypen. Sobald sein Asylverfahren abgeschlossen ist, will er sie besuchen. Ein Ticket kostet etwa 800 Euro. Dafür muss er sieben Monate arbeiten. Oder zirka 42.000 Kaffee kochen. Wann hat Reza seine Geschwister zuletzt gesehen? Er weiß es nicht mehr genau. „Vor neun Jahren vielleicht.“

Zwei Wochen später: Reza hat Geburtstag, er wird 18. Tagsüber arbeitet er, den Abend verbringt er allein. Zum Feiern hat er weder Geld noch Lust: Denn am Wochenende muss er seine Wohnung räumen, im Apartment-Haus dürfen nur Minderjährige wohnen. Reza zieht in ein Asylbewerberheim um. Sechsbettzimmer. „Wie soll es hier schon sein?“, sagt er. „Wie in allen anderen Heimen.“

Einen Termin für seine Anhörung hat er noch nicht. Dafür aber etwas mehr Geld, da er nichts mehr ans Jugendamt abtreten muss. Er will nun endlich seine letzten Schulden abstottern – das Geld, das er sich bei seinem Onkel geliehen hat. Den Rest seines Lohns will er in ein Flugticket investieren. Nicht mehr nach Kabul, sondern nach Teheran. Dorthin sind seine Geschwister gerade geflohen, aus Angst vor den Taliban. Kurz zuvor hatte der deutsche Innenminister Teile Afghanistans für sicher erklärt, denn Ziel der Terroristen seien ja Funktionsträger, nicht normale Menschen. Rezas Vater war: ein normaler Mensch. Aktuell Gesellschaft

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