Dokumentiert, Verbrannt, Vergessen
Ein junger Afghane in Berlin erzählt seine Fluchtgeschichte
Aufgewachsen in Afghanistan, lebt Seyed (15) seit fast zwei Jahren in Berlin. Er entschloss sich, seine bewegende Geschichte aufzuschreiben und zu teilen. Darin fordert er Demokratie, Chancengleichheit und Menschenrechte.
Von Susann Pham Thi Freitag, 24.06.2016, 8:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 26.06.2016, 14:16 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Wir dursten stets nach Orten an denen Geschichte geschrieben wird, Geschichten zusammenkommen und erzählt werden. Berlin ist einer dieser Orte, doch kommen die Geschichten selten von allein zu uns. Auf Menschen zugehen, zuhören lernen und Erlebnisse teilen, ist eine Aufgabe die in den letzten Jahren und Monaten immer mehr „alte“ und „neue“ Berliner verbindet. Zu den „neuen“ Berlinern zählen auch viele geflüchtete Kinder und Jugendliche, die nur zu gut wissen, was Krieg, Verlust und Hunger bedeuten. So auch der 16-Jährige Seyed M.
Aufgewachsen in Afghanistan, lebt Seyed nun seit fast zwei Jahren mit seiner Familie in Berlin. Er entschloss sich, seine bewegende Geschichte aufzuschreiben und zu teilen. Darin fordert er Demokratie, Chancengleichheit und Menschenrechte, ohne sich dessen so genau bewusst zu sein:
„Mein Name ist Seyed M. Ich wurde am 01.09.2000 in Pol-e-Khomri in Afghanistan geboren, in einem Land, in dem seit 40 Jahren Bürgerkrieg herrscht. In einem Land, dass nur von Männern regiert wird und Frauen keine Rechte haben. Auch die Kinder haben in Afghanistan keine Rechte. Ihre Zukunft wird nur durch die Eltern bestimmt. Da meine Familie der Völkergruppe der Sadat angehört, werden wir in Afghanistan von den vier großen Volksstämmen den Hazareh, den Paschtu, den Tajek und den Ozbek nicht anerkannt. Mein Vater arbeitete als Lehrer in Afghanistan, so bekam ich zusätzlich zu Hause Unterricht. In der Schule wurde ich nicht gefördert.
Seit Jahren werden aus unserem Dorf und den Nachbardörfern viele Kinder entführt. Für die Kinder wird Lösegeld gefordert, aber meistens überleben sie nicht. Sie werden als Organspender missbraucht. Die Polizei hilft nicht! Nur für Geld arbeiten sie für die Opfer und deren Familien. Da meine Eltern Angst hatten, dass meiner Schwester und mir das gleiche Schicksal droht, schickten sie uns zu unseren Großeltern in den Iran. Dort lebten wir von 2009 bis zu unserer Flucht 2014.
Afghanische Kinder dürfen im Iran nicht zur Schule gehen. Da meine Eltern und Großeltern viel Geld an eine Schule zahlten, durften meine Schwester und ich am Unterricht teilnehmen. Zeugnisse bekamen wir aber nicht. Wir durften auch nicht aktiv am Unterricht teilnehmen, indem wir uns meldeten, um Fragen zu stellen oder zu beantworten. Auch in Schwimmbäder oder Sportvereine dürfen afghanische Kinder im Iran nicht gehen. Zum großen Teil müssen afghanische Kinder im Iran ab dem 6. Lebensjahr schon arbeiten.
Nach der Ermordung meines 6-jährigen Bruders durch die Taliban in Afghanistan entschlossen sich meine Eltern zur Flucht. Sie kamen mit meinem damals 2-Jährigen Bruder Hamid im Sommer 2014 in den Iran, um uns abzuholen. Wir waren dann fast drei Monate unterwegs. Den größten Teil der Strecke legten wir zu Fuß zurück. Am 15.09.2014 kamen wir in Berlin an. Anfangs hatte ich Angst, was aus mir und meiner Familie wird oder werden wir hier genauso schlecht behandelt wie in Iran? Ich hatte immer noch große Probleme mit dem Verlust meines Bruders. Die lange, anstrengende Flucht und die vielen neuen Eindrücke in Deutschland waren erstmal zu viel für mich.
Nach drei Monaten durften wir zur Schule gehen. Die Lehrer waren sehr freundlich und kümmerten sich um uns. Wir dürfen uns aktiv am Unterricht beteiligen und die Schule macht wieder Spaß. Eine Zeit lang spielte ich in der Schule Fußball. Dies wird aber leider nicht mehr angeboten. Ich möchte mir nach unserem Umzug in eine neue Wohnung einen Fußballverein suchen. Mein Ziel ist es, dass Abitur zu schaffen und danach zu studieren.“
Derzeit engagiert sich Seyed als Übersetzer bei SolidariGee e.V. und unterstützt Gleichaltrige, die ähnliche Schicksalsschläge erfuhren wie er. Die 7 Sprachen, die er auf seinem Fluchtweg erlernte sind nur wenige seiner vielen Stärken.
Diese Geschichte zu veröffentlichen fiel Seyed und seiner Familie nicht leicht. Lange diskutierten er und sein Vater darüber, bis sie zu dem Entschluss kamen, die Geschichten der „neuen“ Berliner nicht ungehört lassen zu dürfen. Besonders Seyeds Vater weiß um die Bedeutung und Notwendigkeit, Lebensgeschichten zu teilen. Er dokumentierte seit Jahren jeden einzelnen Bombenanschlag, jede Erschütterung in seinem Wohnort Pol-e-Khomri und fand im Schreiben eine Möglichkeit, seine Erlebnisse und Emotionen zu verarbeiten. Er füllte mehrere Bücher. Zu Beginn seiner Flucht vor drei Jahren wurden seine Tagebücher entdeckt und verbrannt. Er begann von neuem und ein weiteres Mal wurde seine Dokumentation entdeckt und verbrannt. Er trauert vor allem um die Details, die genauen Tage und Uhrzeiten, die ihm verloren gingen.
Seyeds Vater hat Angst, durch die verlorenen Details die eigene Geschichte nicht vollständig verarbeiten zu können, andererseits spürt er die Notwendigkeit den Generationen nach ihm etwas zu hinterlassen und mehr sogar: Durch Geschichten wie diese, werden Menschen fernab von Bomben an weitaus Größeres erinnert. Nämlich, dass wir wieder anfangen müssen, zuzuhören und zu verstehen, um den Grundstein für ein friedvolles Leben aller nachfolgenden Generationen rechtzeitig legen zu können.
Nicht nur die Zukunft unserer Gesellschaften, sondern vor allem die Zukunft aller ressourcenreichen Länder hängt davon ab, ob diese Geschichten gehört werden. Das Teilen dieser Schicksalsschläge kann Geschehenes zwar nicht Ungeschehen machen, umso wichtiger ist es jedoch, diese Ereignisse als Warnsignale festzuhalten. Durch den Austausch interkultureller Sichtweisen und die Konfrontation mit überhöhten Ängsten vor dem „Fremden“ arbeiten wir aktiv darauf hin, diese dunklen Kapitel der Geschichte nicht zu wiederholen. Aktuell Feuilleton Meinung
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Alles Gute, Seyed. Du wirst es hier schaffen!