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Syrische Flüchtlinge im ungarischen Bahnhof eingesperrt (Archivfoto) © Paul Simon

Ungarn

Der Notstand steht erst bevor

Deutschland hat seine Grenzen dicht gemacht, Österreich und weitere Länder wollen diesem Beispiel folgen. So bleiben Flüchtlinge vorerst weiter in Ungarn. Dort wiederum hat man bereits neue Notstand-Gesetze verabschiedet, die Grundrechte außer Kraft setzen und Militäreinsätze gegen Flüchtlinge legitimieren sollen.

Von Dienstag, 15.09.2015, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 17.09.2015, 22:35 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

In den letzten Wochen ist Ungarn fast offiziell zum Transitland geworden. Nachdem Österreich und Deutschland ihre Grenzen geöffnet hatten, verließen jeden Tag Tausende Flüchtende Ungarn in Richtung Westen. Vorerst schien damit eine Lösung der ungarischen Flüchtlingskrise erreicht. Nun hat Deutschland die Grenzen wieder dicht gemacht. Auch Österreich und die Slowakei kündigten Grenzkontrollen an. So bleiben viele Flüchtlinge in Ungarn interniert – sehr warhscheinlich mit verheerenden Folgen.

Denn die ungarische Regierung arbeitet weiter an der Umsetzung ihres erklärten Hauptzieles: Die Abriegelung und die vollständige Kontrolle der südlichen Grenze nach Serbien. Auf einer Länge von 175 Kilometern wird dort der berüchtigte stacheldraht-bewehrte Grenzzaun gebaut, der im Oktober endlich fertiggestellt sein wird. Doch bis dahin wird die Regierung nicht warten: Sie plant schon in Kürze, endgültig die Grenze wieder unter Kontrolle zu bringen.

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Am 4. September, auf der Höhe der internationalen Aufmerksamkeit für das Drama von Keleti, verabschiedete das Parlament ein neues Anti-Flüchtlings-Gesetz. Dieses soll nicht nur die Einreise an der Grenze neu organisieren, sondern gab der Regierung auch neue Möglichkeiten in die Hand, um nach der Erklärung eines „Notstandes“ Grundrechte außer Kraft zu setzen und die Armee zum Grenzschutz zum Einsatz zu bringen.

Seit kurzem ist dann auch die ungarische Armee an der Grenze, meldet die New York Times. Zwar handelt es sich dabei noch um eine Übung, doch daraus könnte bald der Ernstfall werden. Innenminister Lazar kündigte an, der Regierung zu empfehlen bis zum 15. September schon den Notstand auszurufen. In den nächsten Tagen schon wird das Parlament darüber entscheiden.

Das in der letzten Woche verabschiedete Gesetz sieht vor, den illegalen Grenzübertritt mit mehreren Jahren Haft zu bestrafen, auch die Beihilfe dazu wird weiter kriminalisiert. Vincent Cochotel von UNHCR hatte bereits darauf hingewiesen, dies sei eine Verletzung der UN-Flüchtlingskonvention, welche es verbietet, Menschen mit Asylrecht für einen illegalen Grenzübertritt strafrechtlich zu verfolgen. Er hoffe, wenn nicht auf die ungarischen Gerichte, dann auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Die ungarische Regierung unterdessen hofft, die Grenze vollkommen abriegeln zu können und so die Flüchtlinge zur Nutzung der – teilweise noch zu schaffenden – verbleibenden offiziellen Grenzübergänge zu zwingen. Dort will sie außerhalb der ungarischen Grenzen Transitzonen errichten, in denen die Flüchtlinge untergebracht bleiben, bis ihr Einreiseantrag bearbeitet werden kann. „Eilverfahren“ sollen die Zeit der Internierung an der Grenze auf wenige Tage begrenzen, kündigte die ungarische Regierung an – und die Internierung außerhalb der Grenze offenbar die Deportation nach Serbien erleichtern und beschleunigen. Es ist zu befürchten, dass sich diese Verfahren in einem rechtsfreien Raum abspielen werden, kritisierte die UNHCR. Die UN-Flüchtlingsorganisation befürchtet, dass die Transitzonen vor allem dazu eingerichtet werden könnten, um das Recht und europäische Richtlinien umgehen zu können und den Flüchtlingen eine angemessene rechtliche Beratung vorzuenthalten.

Bisher waren Flüchtlinge, denen es nicht gelang, dem ungarischen Asylsystem zu entgehen, dazu verpflichtet sich eigenständig in das ihnen zugewiesene Lager zu bewegen. Viele nutzten dies als Möglichkeit, um die Reise in Ungarn und nach Österreich fortzusetzen, obwohl sie schon in Ungarn registriert waren. Die neuen Gesetze sind offenbar der Versuch der ungarischen Regierung, bereits an der Grenze die Zahl derer zu begrenzen, die sie einreisen lassen muss. Das Ziel ist, die Zahl der nach Serbien, Bulgarien, oder Griechenland deportierten zu erhöhen und gleichzeitig die Kontrolle über die Einreisenden zu stärken. Letztlich hofft man offenbar darauf, es werde möglich, den Teil der Flüchtlinge, der sich nicht abschrecken lässt, zu einer alternativen Route, etwa über Kroatien und Slowenien zu zwingen. So könne es Ungarn gelingen, nachdem jetzt schon Flüchtlingen die Ausreise nach Österreich und Deutschland erlaubt ist, auch die Einreise auf ein Minimum zu beschränken und so das erklärte Ziel zu erreichen, die Anzahl von Flüchtlingen in Ungarn möglichst gering zu halten.

Wozu das neue Grenzregime führen könnte, lässt sich bereits jetzt am Gewahrsamscamp in Roszke an der serbischen Grenze beobachten. Flüchtlinge, die beim Grenzübertritt von der Polizei aufgegriffen wurden, werden dort unter unwürdigen Zuständen tagelang festgehalten, stellte Human Rights Watch fest. Es fehle ihnen an adäquater Unterbringung, medizinischer Versorgung, ja sogar an Essen und Trinken. Besonders besorgniserregend ist die Tatsache, dass außer der UNHCR keiner humanitären Organisation und keinen Journalisten der Zugang zu diesen de facto Gefängnissen erlaubt worden sei. Zwar sei es laut Gesetzt nur erlaubt, die Flüchtlinge für 36 Stunden in Haft zu nehmen, doch angesichts des überfüllten Lagers bestehe kein Zweifel, dass viele dort schon länger festgehalten werden.

Ein Video, welches die Verteilung von Essensrationen an die hinter Gitterzäunen zusammengepferchten Flüchtlinge zeigt, hatte zuletzt international für Entsetzen gesorgt. Es steht zu befürchten, dass die geplanten großen Lager an der ungarisch-serbischen Grenze den Zuständen in Rozcke ähneln werden.

Info: Die ungarische Regierung war bereits 2013 auf internationalen Druck hin gezwungen, die Praxis, Flüchtlinge in Haft zu nehmen, auszusetzen. Zu lange, zu willkürlich und bei zu schlechten Bedingungen werden Flüchtlinge in Ungarn in Haft gesetzt, kritisierte man schon vor Jahren. Rechtswidrige Haft, stellte die UNHCR 2012 fest, sei nicht die Ausnahme, sondern die Regel.

Besonders besorgniserregend an den neuen Gesetzen ist, neben der Kriminalisierung der Flüchtlinge selbst, auch die Kriminalisierung ihrer Unterstützer. Dies kann potenziell nicht nur die humanitären Unterstützer treffen, welche Flüchtlinge mit Nahrung, Zugtickets, oder einer Unterkunft versorgen und auch nicht nur jene, die Flüchtlinge in ihren Autos transportieren und so Gefahr laufen, als Schlepper verfolgt zu werden. Mit der Erweiterung der Polizeigewalt im offiziell erklärten „Notstand“ steht auch zu befürchten, dass die Arbeit für politische Gruppen und Journalisten schwieriger wird, welche über Zustände in der Haft und in den Lagern berichten wollen.

Wie schon zuvor nutzt die ungarische Regierung alle Mittel, um in der Bevölkerung Angst und Ablehnung zu schüren. Jene Ungarn, die versuchen den Flüchtlingen in ihrem Land Unterstützung zukommen zu lassen, sind nun nicht nur von der Regierung allein gelassen, sondern fühlen sich zunehmend von ihr bedroht. Es scheint, die Flüchtlingskrise in Ungarn hat seinen Höhepunkt noch lange nicht erreicht. Ausland Leitartikel

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