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Eine Sitzung des Bundesrats © Bundesrat, bearb. MiG

Kretschmann-Deal-Bilanz

Die Hürden für Flüchtlinge auf Arbeitssuche bleiben

Vor einem halben Jahr wurden Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina zu sicheren Herkunftsländern erklärt. Im Gegenzug erfeilschte Winfried Kretschmann zahlreiche Verbesserungen für Asylsuchende. Viel ist davon in der Praxis aber nicht angekommen. Eine Zwischenbilanz.

Von Philipp Beng Freitag, 24.07.2015, 6:21 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 26.07.2015, 13:27 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Die Abschaffung der Residenzpflicht für Asylsuchende, ein früher Zugang zum Arbeitsmarkt, mehr Geld- statt Sachleistungen: Was sich wie eine Wunschliste der Migrationsförderung liest, wurde vor einem halben Jahr Gesetz. Doch Flüchtlingsorganisationen bemängeln, die verbesserten Bedingungen seien noch nicht in der Realität angekommen. Nach den ersten Monaten mit den neuen Regelungen ziehen sie eine herbe Zwischenbilanz.

„Das neue Arbeitsrecht kann, so wie es ist, keinen Rieseneffekt haben“, kritisiert Volker-Maria Hügel von der Gemeinnützigen Gesellschaft zur Unterstützung von Flüchtlingen in Münster. Besonders problematisch sei nach wie vor die bestehende Vorrangprüfung für arbeitssuchende Flüchtlinge. Die Behörden stellen nur dann eine Arbeitserlaubnis aus, wenn es für die Stelle keinen möglichen Kandidaten mit EU-Pass gibt.

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Früher war von der Vorrangprüfung befreit, wer mehr als vier Jahre in Deutschland lebte. Inzwischen wurde die Grenze auf 15 Monate gesenkt. Doch die meisten Flüchtlinge bleiben kaum halb so lange im Asylverfahren. 2014 vergingen im Schnitt 7,1 Monate, bevor über einen Asylantrag entschieden wurde. „Über diesen Zeitraum betreibt man eine Desintegration“, sagt Manuel Armbruster von der Kontakt- und Beratungsstelle für Flüchtlinge in Berlin. Durch die Vorrangprüfung würden die Flüchtlinge in die Passivität gedrängt: „Doch sie möchten arbeiten und raus aus der Isolation der Flüchtlingsunterkünfte.“

Laura Gudd vom Flüchtlingsrat Baden-Württemberg hält das Verfahren, das bis zu zwei Monate dauern kann, für überholt: „Ein nachrangiger Zugang ist ja quasi ein Arbeitsverbot.“ Zweifelhaft ist, ob es sich um eine echte Öffnung des Arbeitsmarktes handelt. Weder den Beratungszentren noch Ministerien und Arbeitsagenturen liegen Zahlen vor, die belegen, ob tatsächlich mehr Migranten eine Anstellung finden. Der Eindruck der Vermittler Gudd und Armbruster aber ist: Nur in wenigen Einzelfällen finden Asylsuchende trotz Vorrangprüfung einen Arbeitsplatz.

Blue Card: Um Fachkräfte nach Deutschland zu locken, wurde 2012 die „Blue Card“ beschlossen. Bisher stößt sie aber nur auf verhaltene Resonanz. 2014 wurden bundesweit weniger als 10.000 neue „Blue Cards“ ausgegeben. Von diesen gingen 5.900 an Ausländer, die bereits zuvor in Deutschland lebten. Voraussetzung den „Blue Card“ ist ein Hochschulabschluss, ein nachgewiesenes Arbeitsverhältnis, ein Bruttojahresgehalt von min. 46.400 Euro (37.752 Euro bei Mangelberufen). Wird die „Blue Card“ erstmals erteilt, ist die Aufenthaltsdauer auf max. vier Jahre befristet beziehungsweise für die Dauer des vorgelegten Arbeitsvertrages ausgestellt. Blue-Card-Inhaber erhalten nach drei Jahren eine Niederlassungserlaubnis, wenn ihr Arbeitsverhältnis fortbesteht.

Ändern könnte sich das durch einen Vorstoß der Bundesagentur für Arbeit. Vorstandsmitglied Raimund Becker regte an, die Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis „Blue Card“ an hoch qualifizierte Flüchtlinge zu vergeben und sie so aus dem Asyl- und Vorrangverfahren herauszuholen. CDU-Staatssekretär Günter Krings lehnte den Vorschlag umgehend ab. Man wolle keine „zusätzlichen Anreize für den Missbrauch des Asylverfahrens schaffen“, sagte er.

Gudd und Armbruster sind enttäuscht über die in der Praxis offenbar nicht angekommenen Regelungen, die den Flüchtlingen den Start in Deutschland erleichtern sollten. Dazu kommt der Frust darüber, wie der Asylkompromiss zustande kam. Die Unterstützer von Flüchtlingsrechten haben nicht vergessen, welcher Deal im letzten Herbst dafür eingegangen wurde.

Entgegen der rot-grünen Mehrheit im Bundesrat hatte Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) im September 2014 für die Erweiterung der Liste der sicheren Herkunftsstaaten gestimmt. Seitdem sind Flüchtlinge aus Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina leichter abzuschieben. Kretschmann handelte im Gegenzug die verbesserten Arbeits- und Lebensbedingungen für Asylbewerber aus, erntete für seine Entscheidung aber viel Kritik über Parteigrenzen hinweg. Sein Parteifreund Volker Beck warf ihm vor, das Recht auf Asyl vieler „für einen Appel und ein Ei“ verkauft zu haben.

„Der Preis war tatsächlich sehr hoch“, kommentiert Gudd aus dem Flüchtlingsrat im von Kretschmann regierten Südwesten. Die erfolgten Änderungen seien aber ein guter Anfang. Was fehlt, ist ihr zufolge allerdings ein flächendeckendes Angebot kostenloser, an den Bedürfnissen der Flüchtlinge ausgerichteter Sprachkurse: „Das Problem sind oft mangelnde Deutschkenntnisse.“

Versprochen hatte Kretschmann seinen Bundesrats- und Parteikollegen „substanzielle Verbesserungen für Flüchtlinge“. Zu wenig Lernangebote und die hohe Hürde der Vorrangprüfung bleiben aber ein Problem. Die politische Debatte geht unterdessen weiter. Erst im Juni kündigte die Bundesregierung an, die Länder bei der Finanzierung der Flüchtlingsversorgung zu unterstützen und Integrations- und Sprachkurse für Asylsuchende zu öffnen. (epd/mig) Aktuell Politik

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  1. Matthias sagt:

    Zum Thema BlueCard:

    Den Grauen Kasten rechts im Artikel können Sie vollständig streichen. Er ist vollständig falsch.

    Die Aufenthaltsdauer ist nicht auf 4 Jahre befristet. Die BlueCard soll nur nicht länger am Stück gültig sein. Riesiger Unterschied, denn mit dem Ausdruck befristete Aufenthaltsdauer wird suggeriert, dass danach Schluss ist. Das ist mehr als falsch.

    Ausserdem kann eine Niederlassunsgerlaubnis schon nach 22 Monaten ausgestellt werden, was nach meiner Berechnung weniger als die angegeben drei jahre, sogar weniger als 2 Jahre sind.