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Ein Flüchtlingscamp in Chad für Flüchtlinge aus dem Sudan (Archiv) © European Commission DG ECHO @ flickr.com (CC 2.0), bearb. MiG

Von wegen Wirtschaftsflüchtlinge

An Europa, eine Flucht über das ferne Mittelmeer gar, denkt kaum jemand

Das Gerücht, die meisten Flüchtlinge komen nach Europa wegen des Geldes, hält sich hartnäckig. Ein Blick nach Afrika zeigt das Gegenteil. Die allermeisten Flüchtlinge sind keine Wirtschaftsflüchtlinge und wollen gar nicht nach Europa.

Von Marc Engelhardt Montag, 11.05.2015, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 17.05.2015, 16:42 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Sie kommen in Kanus, auf offenen Lastwagen oder zu Fuß – die Angst treibt sie alle an. Rund 192.000 Nigerianer sind vor der Terrormiliz Boko Haram über die Grenze nach Kamerun, in den Tschad und den Niger geflohen – in einige der ärmsten Länder der Welt. „Die Situation ist auf beiden Seiten der Grenze dramatisch“, sagt Liz Ahua, die örtliche Koordinatorin des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR). „Die Flüchtlinge fürchten um ihr Leben – und sie können derzeit nicht nach Hause zurück.“

Dass Nigerias Armee sich Gefechte mit den Terroristen liefert, hat die Angst offenbar nur angefacht. Weitere 1,2 Millionen Nigerianer sind innerhalb ihres eigenen Landes geflohen. Viele von ihnen leben unter armseligsten Umständen in Lagern. Nigerias Nachbarn sind Beispiele dafür, wie afrikanische Länder das Gros der Flüchtlinge des Kontinents aufnehmen. Mehr als 200.000 Südsudanesen sind zum Beispiel vor Kämpfen nach Äthiopien geflohen.

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Versorgung nur mit dem Nötigsten
Obwohl auch Äthiopien zu den ärmsten Staaten zählt, werden Flüchtlinge wie Sunday Both mit dem Nötigsten versorgt. „Die Lebensumstände im Südsudan sind katastrophal“, beschreibt die zweifache Mutter ihre Lage. „Krieg und Hunger töten uns, mir blieb nichts anderes als die Flucht.“ Hochschwanger verließ sie ihr Dorf. Ihr Baby gebar sie auf der Straße.

Über die nächstliegende Grenze zu kommen, ist indes für alle Flüchtlinge schwer. Auf dem Weg durch unwegsames Kriegsgebiet bedrohen bewaffnete Milizen, Banditen und auch Soldaten diejenigen, die nur mit einem kleinen Bündel Habseligkeiten unterwegs sind. Viele, die es schaffen, berichten von Überfällen, von Vergewaltigungen und Hunger.

An Europa denkte kaum jemand
Wer einen der Grenzposten erreicht, an denen das UNHCR Posten bezogen hat, ist meist am Ende seiner Kräfte. An Europa, eine Flucht über das ferne Mittelmeer gar, denkt kaum jemand. Viele Flüchtlinge müssen Jahre oder gar Jahrzehnte in der Fremde ausharren – so wie viele der mehr als 400.000 Somalier, die im Flüchtlingslager von Dadaab im Nordosten Kenias leben. Seit mehr als zwei Jahrzehnten wird in Somalia gekämpft. Zurück traut sich kaum jemand. Viele Lagerbewohner sind zudem in Dadaab geboren und kennen Somalia nur aus Erzählungen ihrer Eltern.

Wie die faktisch rechtlosen Flüchtlinge zum Spielball der Politik werden, zeigte sich nicht zuletzt Anfang April, als Kenias Vizepräsident William Ruto die Schließung von Dadaab bis Mitte Juli verlangte. Das UNHCR reagierte diplomatisch vorsichtig, denn obwohl Kenia wie alle UN-Staaten völkerrechtlich zum Schutz von Flüchtlingen verpflichtet ist, zählt das ohne Kooperationsbereitschaft wenig. „Die humanitären Folgen einer Schließung von Dadaab wären katastrophal“, urteilt Charles Gaudry von „Ärzte ohne Grenzen“ in Nairobi. In Somalia wären viele Rückkehrer in akuter Gefahr.

In Europa nimmt man davon keine Notiz
Insgesamt hatte das UNHCR Ende 2013 fast drei Millionen Flüchtlinge in Afrika registriert. Dazu kommen mehr als zehn Millionen Flüchtlinge im eigenen Land – und eine hohe Dunkelziffer. Mit mehr als 530.000 Flüchtlingen ist Kenia das größte Aufnahmeland, gefolgt von Äthiopien und dem Tschad mit jeweils knapp 434.000, dem Südsudan mit 230.000 und Uganda mit 220.000. Dass in vielen der Aufnahmeländer selbst Menschen auf der Flucht sind, zeigt, wie kompliziert viele Konflikte sind. Der Südsudan etwa nimmt Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Süden des Sudans auf, während Südsudanesen in anderen Ecken des Landes vor dem Bürgerkrieg im eigenen Land fliehen.

Die Flüchtlinge verbindet die Hoffnung, dass es anderswo nicht schlimmer sein kann als in der Heimat, die sie verlassen. Wird die Lage im Aufnahmeland zu brisant, fliehen viele erneut. Dabei sind gewaltsame Ausschreitungen gegen Flüchtlinge wie zuletzt in Südafrika die Ausnahme. Meistens brechen neue Konflikte aus, in die Flüchtlinge hineingezogen werden. In Europa nimmt man davon oft keine Notiz. So sind seit Wochen mehr als 21.000 Burundier geflohen. Ihr Ziel ist das Nachbarland Ruanda, das vor 21 Jahren Schauplatz eines Völkermords an der Tutsi-Minderheit war, inzwischen aber als ein sicherer Hafen gilt. (epd/mig) Gesellschaft Leitartikel

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