Rezension zum Wochenende
Eine Polin für Oma. Der Pflege-Notstand in unseren Familien
Wie lässt sich die häusliche Pflege von Senioren besser und menschenwürdiger gestalten? Welche gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen müssen erfüllt sein, um dies auch in der Zukunft zu gewährleisten? Ingeborg Haffert hat sich in seinem Buch mit diesen und anderen Fragen beschäftigt – Michael Lausberg hat’s gelesen:
Von Michael Lausberg Freitag, 20.02.2015, 8:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 22.02.2015, 11:42 Uhr Lesedauer: 9 Minuten |
Aufgrund des demographischen Wandels und des Faktums einer alternden Gesellschaft rückt in der BRD die Gerontologie („Alterswissenschaften“) immer weiter in den Focus, auch in wissenschaftlicher Hinsicht. 1 In den letzten Dekaden hat sich die Lebenssituation der Senior_innen in der BRD entscheidend verändert. Die Zahl der älteren Menschen, die zu Hause von den eigenen Angehörigen versorgt werden, sinkt kontinuierlich. Bis zum Jahre 2050 soll sie von jetzt 2,5 Millionen auf fast das Doppelte steigen. Die steigenden Betreuungshilfen der Pflegebedürftigen und die weniger werdende Betreuung innerhalb der Familie haben die Auswirkung, dass immer mehr meist billige Pflegekräfte aus osteuropäischen Ländern mit dieser Aufgabe betraut werden. Viele Angehörige finden keine andere Lösung, die sowohl ihrer als der Lebenssituation der Pflegebedürftigen gerecht wird.
Die Journalistin Ingeborg Haffert hat sich in ihrem Werk ausführlich mit dem „Pflegenotstand“ auseinandergesetzt und über einen längeren Zeitraum mit der polnischen Übersetzerin Agata Pantel mit Angehörigen, polnischen Pflegekräften und Pflegebedürftigen gesprochen. Die dort beobachteten „gravierenden Missstände und Probleme auf allen Seiten“ werden schonungslos offen gelegt und Thesen erarbeitet, wie „wir die Pflege unserer Eltern menschenwürdig organisieren, ohne uns und die Pflegekräfte dauerhaft zu überfordern.“ (Innenteil)
Mit dem polyvalenten Ansatz, alle Beteiligten in dem Buch möglichst selbst zu Wort kommen zu lassen (11), werden die Probleme in einem analytisch guten Sinne analysiert und aufgearbeitet.
Die pflegebedürftigen Senior_innen und/oder ihre Angehörigen wählen lieber die Form der Betreuung durch eine ihnen fremde Person, als in ein Altenheim gehen zu müssen. Häufig geschieht dies unter zeitlichem Druck, da diese wichtigen Fragen aus Angst oft verdrängt und zur Seite geschoben werden. Eine Vollzeitpflege kostet zwischen 1.000 und 2.000 Euro. Da pro Tag mindestens drei Personen für acht Stunden am Tag bezahlt werden müssten und deutsche Arbeitskräfte nicht bereit sind, für einen schlechten Lohn zu arbeiten, kommen dafür nur (billige) ausländische Arbeitnehmer_innen in Frage. Im Rahmen der deutschen Pflegeversicherung gibt es kein Modell, eine 24-Stunden-Pflege zu finanzieren. Es sind aus diesen Gründen auch nur Angehörige der gehobenen Mittelschicht in der Lage, privat die Pflege ihrer Angehörigen zu bezahlen. (20f).
In der BRD arbeiten nach Schätzungen des DGB ca. 200.000 osteuropäische Pflegekräfte, aufgrund der vielen illegalen Beschäftigungsverhältnisse dürfte die Zahl weitaus höher liegen. (15). Die meisten dieser Arbeitnehmer_innen kommen aus Polen, da sie dort keine Arbeit finden oder die finanziell lukrativeren Löhne in der BRD bevorzugen. Die meisten von ihnen verfügen über einen formal überdurchschnittlich hohen Bildungsstandard mit Abitur oder sogar akademischer Ausbildung. Patriarchale Rollenmuster sind dabei zu konstatieren, nur ca. 20% der Pflegekräfte sind Männer.
Die deutschen Familien als Arbeitgeber wissen von der finanziellen Not der osteuropäischen Pflegekräfte und nutzen dies zum Teil für ihre Zwecke aus. Haffert spricht in diesem Zusammenhang von „ausbeuterischen Beschäftigungsverhältnissen“ (74), bei der die Pflegekräfte kontinuierlich überfordert seien: „Dieser enorme Stress potenziert sich noch dadurch, dass sie auf die Lebens- und Arbeitssituation in Deutschland selten gut vorbereitet werden, weder durch Sprach- und Pflegekurse noch durch psychologische Hilfestellungen im Umgang mit Demenzkranken.“ (106). Dies werde in der deutschen Öffentlichkeit gar nicht erst als „Problem“ wahrgenommen (230).
Die „Aschenputtel aus dem Osten“ (219) leben oft jahrelang getrennt von ihren Familien und verlieren den persönlichen Kontakt zum/r jeweiligen Partner/in, Kindern und anderen Angehörigen. Schon überwunden geglaubte antipolnische Ressentiments sind bei vielen deutschen Angehörigen oder Pflegebedürftigen immer noch präsent (12). Deutsche Täter_innen und Mitläufer_innen, die im Nationalsozialismus sozialisiert wurden und die Konstruktion von den „slawischen Untermenschen“ unhinterfragt übernommen hatten, übertragen mitunter ihr Herrenmenschentum auf die polnischen Arbeitskräfte. Pflegekräfte berichten auch von „sexuellen Übergriffen“ Pflegebedürftiger (136).
Haffert prangert vor allem die unseriösen Geschäftspraktiken vieler Vermittlungsagenturen für polnische Pflegekräfte an, die „unangemessen viel Geld verdienen und häufig keine entsprechende Gegenleistung“ bieten würden. (243). Sie führt aus: „Die Agenturen machen das große Geld. Sie verdienen sich eine goldene Nase mit der bloßen Vermittlung von Pflegekräften.“ Auf der Strecke bleiben die Frauen. Sie werden verschickt wie Postpakete, ohne Rücksicht darauf, ob sie sich im fremden Land, in den fremden Familien, oft nur mit rudimentären Sprachkenntnissen überhaupt zurechtfinden.“ (65).
Haffert zeigt auch auf, wie sich die Pflegesituation optimieren lässt und diskutiert Praxishilfen für alle Beteiligten. Weiterhin diskutiert sie thesenartig gesellschaftliche und politische Verbesserungsvorschläge: „Die beste Lösung existiert nicht, aber es gibt Möglichkeiten, die Pflege so zu gestalten, dass sich sowohl die Pflegekräfte als auch die Angehörigen nicht permanent überfordern und die Senioren mit ihrer Betreuung einverstanden sind.“ (240).
- Ziel der Gerontologie ist die Verknüpfung unterschiedlicher Fachbereiche wie Geriatrie, Gerontospychiatrie, Altenpflege und Sozialarbeit zu einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin. Auch die aktuellen Probleme alter Menschen und der Sozialpolitik prägen die Forschungsfragen der Gerontologie. Weitere Aspekte sind Alterssoziologie oder Gerontosoziologie (Erforschung soziologischer Aspekte) oder Gerontopsychologie (Erforschung der psychologischen Aspekte). Vgl. dazu Oswald, W. u.a. (Hrsg.):. Gerontologie: Medizinische, psychologische und sozialwissenschaftliche Grundbegriffe, 3. Auflage, Stuttgart 2006; Wahl, H.-W./Heyl, V.: Gerontologie – Einführung und Geschichte, Stuttgart 2004.
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