Rezension zum Wochenende

Eine Polin für Oma. Der Pflege-Notstand in unseren Familien

Wie lässt sich die häusliche Pflege von Senioren besser und menschenwürdiger gestalten? Welche gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen müssen erfüllt sein, um dies auch in der Zukunft zu gewährleisten? Ingeborg Haffert hat sich in seinem Buch mit diesen und anderen Fragen beschäftigt – Michael Lausberg hat’s gelesen:

Aufgrund des demographischen Wandels und des Faktums einer alternden Gesellschaft rückt in der BRD die Gerontologie („Alterswissenschaften“) immer weiter in den Focus, auch in wissenschaftlicher Hinsicht. 1 In den letzten Dekaden hat sich die Lebenssituation der Senior_innen in der BRD entscheidend verändert. Die Zahl der älteren Menschen, die zu Hause von den eigenen Angehörigen versorgt werden, sinkt kontinuierlich. Bis zum Jahre 2050 soll sie von jetzt 2,5 Millionen auf fast das Doppelte steigen. Die steigenden Betreuungshilfen der Pflegebedürftigen und die weniger werdende Betreuung innerhalb der Familie haben die Auswirkung, dass immer mehr meist billige Pflegekräfte aus osteuropäischen Ländern mit dieser Aufgabe betraut werden. Viele Angehörige finden keine andere Lösung, die sowohl ihrer als der Lebenssituation der Pflegebedürftigen gerecht wird.

Die Journalistin Ingeborg Haffert hat sich in ihrem Werk ausführlich mit dem „Pflegenotstand“ auseinandergesetzt und über einen längeren Zeitraum mit der polnischen Übersetzerin Agata Pantel mit Angehörigen, polnischen Pflegekräften und Pflegebedürftigen gesprochen. Die dort beobachteten „gravierenden Missstände und Probleme auf allen Seiten“ werden schonungslos offen gelegt und Thesen erarbeitet, wie „wir die Pflege unserer Eltern menschenwürdig organisieren, ohne uns und die Pflegekräfte dauerhaft zu überfordern.“ (Innenteil)

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Mit dem polyvalenten Ansatz, alle Beteiligten in dem Buch möglichst selbst zu Wort kommen zu lassen (11), werden die Probleme in einem analytisch guten Sinne analysiert und aufgearbeitet.

Die pflegebedürftigen Senior_innen und/oder ihre Angehörigen wählen lieber die Form der Betreuung durch eine ihnen fremde Person, als in ein Altenheim gehen zu müssen. Häufig geschieht dies unter zeitlichem Druck, da diese wichtigen Fragen aus Angst oft verdrängt und zur Seite geschoben werden. Eine Vollzeitpflege kostet zwischen 1.000 und 2.000 Euro. Da pro Tag mindestens drei Personen für acht Stunden am Tag bezahlt werden müssten und deutsche Arbeitskräfte nicht bereit sind, für einen schlechten Lohn zu arbeiten, kommen dafür nur (billige) ausländische Arbeitnehmer_innen in Frage. Im Rahmen der deutschen Pflegeversicherung gibt es kein Modell, eine 24-Stunden-Pflege zu finanzieren. Es sind aus diesen Gründen auch nur Angehörige der gehobenen Mittelschicht in der Lage, privat die Pflege ihrer Angehörigen zu bezahlen. (20f).

In der BRD arbeiten nach Schätzungen des DGB ca. 200.000 osteuropäische Pflegekräfte, aufgrund der vielen illegalen Beschäftigungsverhältnisse dürfte die Zahl weitaus höher liegen. (15). Die meisten dieser Arbeitnehmer_innen kommen aus Polen, da sie dort keine Arbeit finden oder die finanziell lukrativeren Löhne in der BRD bevorzugen. Die meisten von ihnen verfügen über einen formal überdurchschnittlich hohen Bildungsstandard mit Abitur oder sogar akademischer Ausbildung. Patriarchale Rollenmuster sind dabei zu konstatieren, nur ca. 20% der Pflegekräfte sind Männer.

Die deutschen Familien als Arbeitgeber wissen von der finanziellen Not der osteuropäischen Pflegekräfte und nutzen dies zum Teil für ihre Zwecke aus. Haffert spricht in diesem Zusammenhang von „ausbeuterischen Beschäftigungsverhältnissen“ (74), bei der die Pflegekräfte kontinuierlich überfordert seien: „Dieser enorme Stress potenziert sich noch dadurch, dass sie auf die Lebens- und Arbeitssituation in Deutschland selten gut vorbereitet werden, weder durch Sprach- und Pflegekurse noch durch psychologische Hilfestellungen im Umgang mit Demenzkranken.“ (106). Dies werde in der deutschen Öffentlichkeit gar nicht erst als „Problem“ wahrgenommen (230).

Die „Aschenputtel aus dem Osten“ (219) leben oft jahrelang getrennt von ihren Familien und verlieren den persönlichen Kontakt zum/r jeweiligen Partner/in, Kindern und anderen Angehörigen. Schon überwunden geglaubte antipolnische Ressentiments sind bei vielen deutschen Angehörigen oder Pflegebedürftigen immer noch präsent (12). Deutsche Täter_innen und Mitläufer_innen, die im Nationalsozialismus sozialisiert wurden und die Konstruktion von den „slawischen Untermenschen“ unhinterfragt übernommen hatten, übertragen mitunter ihr Herrenmenschentum auf die polnischen Arbeitskräfte. Pflegekräfte berichten auch von „sexuellen Übergriffen“ Pflegebedürftiger (136).

Haffert prangert vor allem die unseriösen Geschäftspraktiken vieler Vermittlungsagenturen für polnische Pflegekräfte an, die „unangemessen viel Geld verdienen und häufig keine entsprechende Gegenleistung“ bieten würden. (243). Sie führt aus: „Die Agenturen machen das große Geld. Sie verdienen sich eine goldene Nase mit der bloßen Vermittlung von Pflegekräften.“ Auf der Strecke bleiben die Frauen. Sie werden verschickt wie Postpakete, ohne Rücksicht darauf, ob sie sich im fremden Land, in den fremden Familien, oft nur mit rudimentären Sprachkenntnissen überhaupt zurechtfinden.“ (65).

Haffert zeigt auch auf, wie sich die Pflegesituation optimieren lässt und diskutiert Praxishilfen für alle Beteiligten. Weiterhin diskutiert sie thesenartig gesellschaftliche und politische Verbesserungsvorschläge: „Die beste Lösung existiert nicht, aber es gibt Möglichkeiten, die Pflege so zu gestalten, dass sich sowohl die Pflegekräfte als auch die Angehörigen nicht permanent überfordern und die Senioren mit ihrer Betreuung einverstanden sind.“ (240).

Sie konstatiert, dass es einen „der Pflegenot angemessenen öffentlichen Diskurs“ nicht wirklich gibt und ein „so virulentes gesellschaftliches Thema ein solch erschreckendes Schattendasein führt“. (242) Sie prangert vor allem die Tatenlosigkeit auf der politischen Ebene an: „Obwohl alle, sowohl die Bevölkerung als auch die Politiker wissen, dass ausländische Pflegekräfte unter den jetzigen Bedingungen nur eine Notlösung für unseren Pflegenotstand sein können, geschieht wenig.“ (19). Es gibt keine ausgefeilten Modelle, wie die häusliche Pflege von einer steigenden Zahl älterer Menschen in Zukunft organisiert werden kann. Es werden immer noch veraltete Strategien propagiert, die mit der Realität nichts mehr zu tun haben: „Die Entscheidungen, die derzeit auf der politischen Ebene im Bereich der Pflege getroffen werden, basieren in weiten Teilen noch immer auf dem traditionellen Familienmodell. Die Frau kümmert sich vorrangig um die Kinder und auch um die zu pflegenden Eltern und Schwiegereltern.“ (227).

Vor allem unseriöse Agenturen würden von der allgemeinen Unsicherheit und dem fehlenden Wissen aller Beteiligten profitieren und auf diese Weise viel Geld verdienen. Sie fordert daher die Politik auf, weitreichende Beratungsangebote zu garantieren und ein Qualitätssiegel für Vermittlungsagenturen ins Leben zu rufen. Pflegedienste vor Ort könnten als Berater fungieren und die Angehörigen mit ihren Kontakten unterstützen.

Die ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse vieler Pflegekräfte gilt es zu verändern. Sie bräuchten einklagbare Arbeitsbedingungen, eine Festanstellung mit deutschem Arbeitsvertrag, einen gesetzlichen Mindestlohn und andere gesetzliche Rechte gegenüber Arbeitgeber_innen. Geregelte Arbeits- und Urlaubszeiten, eine Kranken-, Renten-, Pflege- und Unfallversicherung nach deutschem Muster würden ihre Situation entscheidend verbessern. Außerdem solle sich der Staat an den Kosten für die Sozialversicherung des Pflegepersonals beteiligen. (201). Bevor eine Pflegekraft eine Stelle antritt, müsse sichergestellt werden, dass er/sie über seine/ihre vertraglichen Rechte genau informiert ist. Es muss von staatlicher Seite gewährleistet werden, dass die festgeschriebenen Arbeitsbedingungen stichprobenartig kontrolliert werden.

Voraussetzung für eine Betreuung ist ein Mindestmaß an Respekt, interkulturelle Offenheit, Ambiguitätstoleranz, Empathie und die Fähigkeit des Perspektivenwechsels bei allen Beteiligten. Pflegebedürftige sollten im Vorfeld über ihre eigenen Sorgen und Erwartungen offen sprechen. Eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe ohne Bevormundung aller Beteiligten klingt bei einem Arbeitsverhältnis etwas befremdlich, ist aber für alle Beteiligten die beste Lösung. Außerdem ist es wichtig, dass sich die Angehörigen Zeit nehmen, der Pflegekraft möglichst viel über die zu betreuende Person zu erzählen. Eine ausreichende Beherrschung der deutschen Sprache ist ebenfalls eine wichtige Voraussetzung für eine gute Zusammenarbeit zwischen den Familien und der Pflegekraft. Die Anstellung einer Pflegekraft dürfe nicht dazu führen, dass sich die Angehörigen aus der Betreuung vollständig zurückziehen.

Beim Tod des/der Pflegepatienten(in) sollte laut Haffert nach Möglichkeit die Pflegekraft durch gemeinsames Gedenken oder Einbeziehung bei der Organisation der Beerdigungsfeier am Trauerprozess beteiligt werden. (240).

Haffert weist außerdem darauf hin, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege in Zukunft so wichtig sein wird wie die Vereinbarkeit von Beruf und Kinderbetreuung. Die Aufgabe von Arbeitgeber_innen besteht dann darin, „flexible Arbeitszeitgestaltung und Sonderurlaub, flexible Arbeitszeitorganisation durch Teamarbeit, Jobsharing, Rücksichtnahme bei Mehrarbeit oder Geschäftsreisen und ein flexibler Arbeitsort durch alternierende Teleheimarbeit möglich zu machen.“ (236).

In dem Buch fehlt allerdings eine Auseinandersetzung mit dem neuesten Trend der Betreuung deutscher Senior_innen in Altenheimen im EU-Ausland. Von 2,5 Millionen Deutschen, die Pflegegeld beziehen, werden bislang 5.000 vorwiegend im ehemaligen Schlesien oder in der Tschechischen Republik in Altenheimen von deutschsprachigem Personal betreut. Das hat vor allem handfeste pekuniäre Gründe: In der BRD kann ein Platz in einem Einzelzimmer je nach Pflegestufe mehr als 3.000 Euro kosten, während im osteuropäischen Ausland weniger als die Hälfte aufgebracht werden muss. Die Nachfrage steigt deutlich an, diese Art der Pflege gilt als zukunftsweisendes Modell.

Ein anderes Zukunftsmodell wie das Mehrgenerationenhaus mit dort wohnender Pflegekraft bleibt ebenfalls in der Diskussion außen vor. 2 Um die mit dem demographischen Wandel verbundenen ökonomischen Zwänge zu begegnen, bietet das Wohnen in der Großfamilie eine Alternative, über die wieder mehr Bürger_innen nachdenken. Nach einer Erhebung des Meinungsforschungsinstitutes Innofact können sich mittlerweile 50% der Deutschen vorstellen, im Alter mit den eigenen Kindern zusammenzuleben. Solch ein Mehrgenerationenhaus bietet den Vorteil, dass sich die Generationen nach Möglichkeit gegenseitig im Haushalt oder bei der Kinderbetreuung unterstützen könnten. Für alle Arbeit, die von den Angehörigen nicht mehr geleistet werden kann, könnte eine Pflegekraft, die im Haus wohnen würde, gewonnen werden.

Trotz dieser Einwände kann das Buch als Lektüre empfohlen werden. Bei der Erörterung des fraglos wichtigen Themas ist vor allem Hafferts ganzheitlicher Ansatz, alle Beteiligten (Pflegekräfte, Pflegebedürftige, Angehörige) zu Wort kommen zu lassen und dann konkrete Lösungsvorschläge aufzuzeigen, die praxisnah leicht umzusetzen sind, hervorzuheben. Der inhaltliche Aufbau, die Gliederung und die Argumentationsstrategie sind hervorragend, so dass sich das Buch als Einstiegsliteratur in dies noch nicht so stark erforschte Thema eignet.

  1. Ziel der Gerontologie ist die Verknüpfung unterschiedlicher Fachbereiche wie Geriatrie, Gerontospychiatrie, Altenpflege und Sozialarbeit zu einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin. Auch die aktuellen Probleme alter Menschen und der Sozialpolitik prägen die Forschungsfragen der Gerontologie. Weitere Aspekte sind Alterssoziologie oder Gerontosoziologie (Erforschung soziologischer Aspekte) oder Gerontopsychologie (Erforschung der psychologischen Aspekte). Vgl. dazu Oswald, W. u.a. (Hrsg.):. Gerontologie: Medizinische, psychologische und sozialwissenschaftliche Grundbegriffe, 3. Auflage, Stuttgart 2006; Wahl, H.-W./Heyl, V.: Gerontologie – Einführung und Geschichte, Stuttgart 2004.
  2. Vgl. dazu: Scherf, H./Biberli, I.: Das Alter kommt auf meine Weise. Lebenskonzepte heute für morgen, München 2009 oder www.mehrgenerationenhaeuser.de/themen-dossiers