Rezension zum Wochenende
„Amira, du gehörst zu uns!“ – Ein Kinderroman zum Thema Abschiebung
Wenn ein 14 Tage alter Säugling vom Landrat aufgefordert wird, Deutschland zu verlassen, glauben wahrscheinlich die meisten Deutschen, dass das ein Irrtum sein muss. Das ist leider nicht der Fall. Die Geschichte “Amira, du gehörst zu uns” ist reich an landeskundlichen Fakten, die sich um die Themen Abschiebung drehen – ein Geschenktipp zu Weihnachten von Georg Niedermüller.
Von Georg Niedermüller Freitag, 05.12.2014, 8:21 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 07.12.2014, 1:15 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Die Geschichte “Amira, du gehörst zu uns” von Regina Rusch (2009) ist reich an landeskundlichen Fakten, die sich um die Themen Abschiebung drehen. Amira lebt mit ihrer Familie seit 14 Jahren in Deutschland und soll nun aus heiterem Himmel abgeschoben werden. Was erfährt man aus diesem Buch über Deutschland?
Für viele Leser dürften viele der rechtlichen Aspekte neu ein. So erfährt man z.B., dass Asylbewerber nicht arbeiten dürfen (12), dass Familien um vier Uhr früh von der Polizei aus dem Bett geholt und mit Handschellen zum Flugplatz gefahren werden (32), dass man sich alle drei Monate bei der Ausländerbehörde melden muss und jedes Mal vor der bangen Frage steht, ob man noch länger bleiben darf (53) und dass Kinder, die in Deutschland geboren werden jederzeit der Gefahr ausgesetzt sind, in ein für sie wildfremdes Land abgeschoben zu werden.
Das Schulkind Merle formuliert: „Es müsste ein Gesetz geben, dass jeder, der in Deutschland geboren wird, Deutscher wird.“ (41) An dieser Formulierung hängen sehr wichtige Sachen, wie z.B. das Anrecht auf eine ausreichende medizinische Versorgung, das Recht auf Schulbildung, das Recht auf Freizügigkeit. Alle diese Grundrechte sind mit dem Status, den man als „Flüchtling“ oder „Geduldeter“ hat, eingeschränkt. Und dieser Status kann Jahrzehnte dauern.
Der Junge Jeremy antwortet darauf: „In Amerika ist das schon ewig so.“ (42) Tatsächlich verhält es sich so, dass jeder, der in den USA geboren wird, die vollen Staatsbürgerrechte hat. Auch die doppelte Staatsbürgerschaft ist zwischen Ländern wie Deutschland und den USA oder Australien ist problemlos möglich.
Neben den rechtlichen Rahmenbedingungen, die mit dem Thema Abschiebung zu tun haben, finden sich in der Geschichte eine Reihe landeskundlicher Aspekte, die mit dem Thema „Zivilgesellschaft“ zu tun haben. Gegen die Entscheidung der Ausländerbehörde, die Familie Simic abzuschieben, formiert sich ein zivilgesellschaftlicher Protest: die Zeitung wird eingeschaltet, es wird eine Demonstration organisiert, es werden Briefe an Politiker geschrieben und der Petitionsausschuss angerufen. Außerdem werden Informationen von der Hilfsorganisation Pro Asyl und aus dem Internet eingeholt.
Ein Petitionsausschuss ist in Deutschland eine Einrichtung der Parlamente auf Landes- und Bundesebene, die in der Geschichte so erklärt wird: „Sie sollen der Familie erlauben, hierzubleiben. Weil es besonders hart und ungerecht wäre, wenn sie zurückmüssten.“ (77) Rechtlich gesehen ist die Abschiebung also nicht zu ändern, es gibt jedoch die Möglichkeit des Gnadenrechts durch den Petitionsausschuss. Man fragt sich, warum es in Deutschland überhaupt Gesetze gibt, die von einem Petitionsausschuss behandelt werden müssen. Braucht man in Deutschland unbedingt „besonders harte“ Gesetze?
Ein anderes landeskundliches Thema wird in dem Buch angesprochen, und zwar das Kirchenasyl: „Die Kirche ist so eine Art Schutzraum.“ (81) „So genau weiß ich nicht, wie das funktioniert, aber die Kirchengemeinden könnten wirklich helfen.“ (82)
Als letztes landeskundliche Thema soll die soziale Integration der Familie Simic erwähnt werden: „Amira redete sich immer mehr in Fahrt. ‚Du bist Elternsprecher in Agans Kindergartengruppe und Kassenwart im Fußballverein!‘ Sie zeigte auf ihren Vater. ‚Und du kümmerst dich um die kranke Frau Classen und betreust Kinder bei den Ferienspielen!‘ … ‚Das ist Heimat. Oder-?'“ (86) Hier wird deutlich, dass die soziale und sprachliche Integration der Familie Simic längst geglückt ist. Amira ist in der Schule die Klassenbeste, selbst im Fach Deutsch (18). Merles Mutter fragt: „Und hat sie nicht kürzlich eine Auszeichnung bekommen, weil sie so hervorragend als Streitschlichterin arbeitet?“ (18)
Ehrenamtliches Engagement ist in Deutschland weit verbreitet, es gehört zum guten Ton, sich in Kindergärten und Schulen zu engagieren oder in Vereinen mitzuarbeiten. Der Begriff der Integration hat also nicht so viel mit der Nationalität und der Staatsangehörigkeit zu tun, sondern damit, ob man in einer Gesellschaft beruflich und sozial einen Platz gefunden hat.
Fazit
Die Geschichte bietet einen hervorragenden Einstieg in die Widersprüchlichkeit der Flüchtlingspolitik. Für viele – auch deutsche Leser – dürfte erstaunlich sein, dass die Probleme nicht zwischen den deutschen und den ausländischen Menschen bestehen. Im Gegenteil sind die Ausländer im Roman kulturell so weit integriert, dass sie mit ihrem ehrenamtlichen Engagement fast schon deutscher als die Deutschen sind. Das geht so weit, dass das ausländische Kind im Schulfach „Deutsch“ die beste ist.
Die Probleme bestehen eher zwischen der Bevölkerung und einer Politik, deren Handeln auch von vielen Deutschen nicht nachvollzogen werden kann. Die Lehrerin Frau Schöne bringt es auf den Punkt: „Du hast Recht: es ist Blödsinn, dass eine Familie, die seit vierzehn Jahren hier lebt, plötzlich weg soll.“ (31) Frau Schöne gehört wie viele andere Unterstützerinnen der ausländischen Familie der bürgerlichen Mittelschicht an. Diese Menschen gehen auf die Straße, um gegen die realitätsfremde Entscheidung der Ausländerbehörde zu demonstrieren.
Der Roman bietet vielerlei Gelegenheit, sich mit den landeskundlichen Gegebenheiten rund um das Thema Abschiebung zu beschäftigen. Rechtliche Zusammenhänge werden kindgerecht erklärt und die Durchsicht des Manuskripts durch Pro Asyl gewährt inhaltliche Korrektheit in allen juristischen Aspekten. Für den Schulunterricht im Fach Deutsch ist der Roman bestens geeignet.
Das Thema knüpft durchaus an aktuelle Diskussionen an. Noch im Mai diesen Jahres wurde ein 14 Tage alter Säugling vom seinem Landrat aufgefordert, Deutschland zu verlassen. Die meisten Deutschen würden wahrscheinlich glauben, dass so eine Aufforderung ein Irrtum sein muss. Das ist leider nicht der Fall. Es hat bei www.change.org eine Petition unter dem Titel „Keine Abschiebung des Säuglings Duha Aline“ gegeben, die von 66.000 Menschen unterzeichnet wurde. Aktuell Rezension
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