Rezension zum Wochenende
Räumlich verlegte Lebensmittelpunkte
Adrian Kasnitz erzählt in seinem Debütroman die Geschichten zweier Migrationsfamilien aus Polen und Griechenland in der westfälischen Provinz. Eine Rezension von Daniel Kasselmann.
Von Daniel Kasselmann Freitag, 07.11.2014, 8:20 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 09.11.2014, 20:51 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Adrian Kasnitz‘ Protagonist Moritz ist neu in Berlin und treibt einsam und haltlos durch die Stadt. Der Grund seines Kummers, den er immer wieder mit Alkohol betäubt, bleibt bis zum Schluss im Verborgenen. Als er sich in die Kellnerin Ella verguckt, erzählt er ihr bruchstückhaft von dem Haus in der westfälischen Provinz, in dem er aufwuchs, und seinen migrantischen Bewohnern. Es sind insbesondere zwei Familien, die Bodanskis aus dem polnischen Diwitten und die kretischen Konstantinidis, die über drei Generationen als Migrationsgeschichten im Mittelpunkt des Hauses und Moritz‘ Geschichten stehen. Von der Elterngeneration in den Heimatländern über die Hintergründe der Emigration der Kindergeneration nach Deutschland, deren Ankunft, Einleben und Leben in der neuen Welt bis hin zur Enkelgeneration, zu der auch Moritz gehört.
„‘Es war ein ganz gewöhnliches Haus mit richtigen Menschen, die es bewohnten, real people sozusagen.‘ Er erinnerte sich an die Namensschilder, die Klingelknöpfe, Namen, die entweder in Blech graviert, in einen Plastikstreifen gestanzt oder auf Pappe geschrieben waren. All die unbürgerlichen Namen, die in alle Himmelsrichtungen aus diesem Land hinauswiesen. Warum gab es dieses Haus nicht mehr? Wohin waren all diese Menschen verschwunden?“
Moritz erzählt minutiös, in epischer Länge und als Ella schließlich müde heimgehen will, bietet er an, sie zu begleiten. Auf dem weiten Heimweg erzählt er weiter, bis sie bei ihr ankommen. Am nächsten Morgen verlässt er sie und streift weiter durch die Stadt; eine Rentnerin auf einer Parkbank, ein Wirt und ein Kind sind nun die flüchtigen Bekanntschaften, welche die Geschichten von ihm zu hören bekommen. Als er irgendwann in dem Café Ella wiederbegegnet und zu Ende erzählt, erschließt sich erst auf den letzten Seiten der Grund seines Kummers.
Die Zumutung, die Kasnitz dem Leser aufbürdet besteht darin, dass man zwar einerseits Moritz‘ akribische Erinnerungen über den faszinierenden Mikrokosmos des Hauses in der Provinz mit seinen Bewohnern und ihren Migrationsgeschichten genießt, sich aber dabei ständig fragt, was ihn so schmerzt, dass er dermaßen manisch dazu getrieben wird, jeder Zufallsbekanntschaft, davon zu erzählen. Als die alte Frau auf der Parkbank ihn nach einer Episode unvermittelt fragt, warum er das erzählt, reagiert er hitzig:
„‘Warum, warum‘, schrie er, als sei er von etwas gestochen worden, ‚das weiß der Himmel. Ich muss einfach. Es ist in mir drin. Aber niemand hat eine Ahnung davon. Ich bin der einzige, der es weiß. Wenn ich es nicht tue, wer dann?“
Kasnitz wählt den auktorialen Erzähler: der wechselt teilweise von Absatz zu Absatz von Moritz‘ Spaziergängen, Beobachtungen, Erlebnissen und Begegnungen in Berlin (Fiktionsebene 1) unangekündigt hinüber zu dessen Erinnerungen an die westfälische Provinz (Fiktionsebene 2) und die Familiengeschichten (Fiktionsebenen 3 und 4). Diese unsichtbaren Schnitte zwingen den Leser zu höchster Aufmerksamkeit, denn immer wieder befindet man sich unangekündigt in einer anderen Erzählebene wieder, liest nochmal und stellt beim übernächsten Absatz vielleicht irritiert fest, dass man sich schon wieder auf einer anderen Erzählebene befindet. Dieser Erzählstil erinnert an den unsichtbaren Schnitt im Film oder an russische Puppen, bei denen man nie ganz sicher ist, welche denn nun gerade geöffnet ist. Das bedeutet eine zwangsläufig verlangsamte Lektüre.
Das Haus als Ort dieses migrantischen Mikrokosmos spielt dabei eine besondere Rolle:
„Es war ein einsames Haus in einer öden Landschaft. Aber es war nicht immer so gewesen. Der ganze Straßenzug sollte, einige Jahre bevor die Bodanskis dort eingezogen waren, saniert, zumindest abgerissen werden und einer Neubausiedlung weichen. (…) Zügig begannen die Abrissarbeiten, aber fertig wurden sie nicht. (…) Als alle Häuser in Trümmern lagen und die Trümmer bereit waren, von großen Kipplastern weggeschafft zu werden, stand als einziges das Haus 31. (…) Eines Tages meldete der Bauleiter den Konkurs des Bauunternehmens. Nun stand das stille graue Haus Nr. 31 allein im Klingenweg.“
Das Haus und seine Bewohner befinden sich auf einer Brache und sind räumlich von der restlichen Wohnbebauung isoliert. Es gibt – mal abgesehen von einem Auftritt einer multikulturellen Tanztruppe auf dem Stadtteilfest – ansonsten keinerlei Berührungspunkte der Hausbewohner mit der einheimischen Bevölkerung. Damit wird das Setting des Hauses zum Symbol für die Situation der Migranten in der westfälischen Provinz.
Der unsichtbare Wechsel zwischen den Fiktionsebenen, die Geschichten und Geschichten-in- den-Geschichten, sowie der Mikrokosmos der Geschichten von zwei Familien in drei Generationen in einem Patchwork von Bruchstücken erzählt, ist für den ungeduldigen Leser eine Zumutung. Zumal der manisch erzählende Held – leicht verwahrlost und ständig etwas betrunken – nicht der typische Sympathieträger ist. Erst am Ende liegen die Gründe für seine seelische Gebrochenheit offen, als die sich durch die Handlung wie Schlingpflanzen wuchernden Geschichten in einer infernalischen Katastrophe kulminieren.
Mit „Wodka und Oliven“ ist Adrian Kasnitz ein sehr lesenswerter Debütroman gelungen, sowie ein großartiges Plädoyer gegen das Vergessen der deutschen Migrationsgeschichte in den Jahren nach der Wiedervereinigung. Mehr davon! Aktuell Rezension
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