Familienzusammenführung
Kaum jemand kann die Bedingungen erfüllen
Angesichts des ISIS-Terrors versuchen viele Syrer verzweifelt, Angehörige nach Deutschland zu holen. Doch der deutsche Bürokratie-Dschungel verhindert eine schnelle Hilfe, wie der Fall von Familie Rothe zeigt.
Von Karsten Packeiser Montag, 06.10.2014, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 09.10.2014, 18:10 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Die Raketeneinschläge in Al-Qamischli waren den deutschen Medien bislang keine Meldung wert. Der Öltransporter, der im Christenviertel der nordsyrischen Stadt explodierte, auch nicht. Was sich das deutsch-syrische Ehepaar Oarde und Christian Rothe bei seinen Skype-Telefonaten von den Verwandten anhören muss, bringt die Eheleute im fernen Mainz fast um den Verstand. Seit sechs Monaten versuchen die beiden, ihre Angehörigen aus dem Kriegsgebiet herauszuholen. Doch die Mühlen der deutschen Bürokratie mahlen langsam, und die ISIS-Terrorkämpfer ziehen ihren Belagerungsring um die Stadt immer enger.
„Die Familie muss so schnell wie möglich da raus, so lange noch Flieger vom Flughafen starten können“, sagt Christian Rothe. Sollten ISIS-Kämpfer die Stadt einnehmen, müssten Eltern und Geschwister seiner aramäischen Frau damit rechnen, als Christen ermordet zu werden. Die Familie wolle sich aber nicht in die Hände von Schleuserbanden begeben, um in Europa einen Asylantrag zu stellen. 8.000 bis 12.000 Euro koste die illegale Flucht nach Deutschland, rechnet Rothe vor – pro Person, zuzüglich der Unterhaltskosten in den Transitländern und ohne Garantie, das Ziel lebend zu erreichen.
Neben dem normalen Asylverfahren hatten fast alle Bundesländer 2013 allerdings auch den Nachzug syrischer Angehöriger nach Deutschland erlaubt, wenn deren Lebensunterhalt gesichert ist. Eine sogenannte Verpflichtungserklärung kann aber nur ausgestellt werden, wenn das Ausländeramt zuvor akribisch die Lebensumstände der Gastgeber geprüft hat. Die müssen ein hohes, frei verfügbares Einkommen nachweisen oder 16.000 Euro pro Person auf ein Sperrkonto einzahlen.
Wer soll gerettet werden?
Im Fall von Christian und Oarde Rothe gestattete die Stadt Mainz zunächst nur die Aufnahme von zwei Personen. Vor die furchtbare Wahl gestellt, wer aus der Familie gerettet werden konnte, wollte die Familie Oardes jüngste Geschwister nach Deutschland holen. „Man fühlt sich sehr schlecht, weil man so etwas ja nicht entscheiden kann“, sagt die junge Syrerin. Nach einem Bericht in der Lokalpresse waren aber einige wohlhabende Privatleute bereit, für weitere Familienmitglieder zu bürgen.
Neue Probleme bereitete die Behörden-Forderung, die Rothes müssten eine Krankenversicherung mit dem Leistungsumfang der gesetzlichen Kassen für alle Angehörigen abschließen. Er habe kein einziges Unternehmen gefunden, das eine solche Versicherung für ausländische Langzeitbesucher anbietet, klagt Rothe. Unterstützung vom schlecht informierten Ausländeramt habe er nicht erhalten. Die Stadt Mainz weist solche Kritik zurück. Andere Familien hätten die geforderten Unterlagen vorlegen können, eine Behörde dürfe keine Werbung für konkrete Anbieter machen.
„Diese Regelung ist bewusst so gestaltet, dass kaum jemand die Bedingungen erfüllen kann“, bemängelt hingegen der Mainzer Sozialmediziner Gerhard Trabert, dessen Verein „Armut und Gesundheit“ sich bereiterklärte, die Familie kostenlos medizinisch zu behandeln. Das rot-grün regierte Rheinland-Pfalz mache bei der Krankenversicherung sogar noch strengere Vorgaben als andere Länder. In Mainz wurden Angehörigen der Familie Rothe inzwischen als Härtefall anerkannt: Auf die Versicherung wird damit verzichtet, aber etwaige Gesundheitskosten müssten die Bürgen tragen.
Zukunft bleibt ungewiss
Ob die Flucht nach Deutschland damit nun gelingt, bleibt offen. Oarde Rothes Eltern und Geschwister müssten an Bord eines der übervollen Flugzeuge nach Damaskus gelangen, dort ihre Geburts- und Heiratsurkunden legalisieren lassen, dann im Taxi über die eigentlich geschlossene Grenze in den Libanon. Dort bräuchten sie für das erhoffte Visum einen Termin in der von Flüchtlingen bedrängten deutschen Botschaft.
Um die Odyssee syrischer Kriegsopfer etwas zu verkürzen, will Bremen als erstes Bundesland den Nachzug zu Verwandten nach Deutschland aus den vom IS bedrohten Teil Syriens auch ohne Verpflichtungserklärung erlauben. Ohne Zustimmung des Bundes kann diese Sonderregelung aber nicht in Kraft treten. (epd/mig) Leitartikel Politik
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