Buchtipp zum Wochenende
Lebt – Anatomie eines Verbrechens
Eine einzige Begegnung nimmt Can Evinman alle Gewissheiten. Und bedroht seine Identität. Vielleicht auch sein Leben … Grimme-Preisträger Orkun Ertener legt seinen ersten Roman vor. In „Lebt“ wird munter gestorben.
Von Jamal Tuschick Freitag, 12.09.2014, 8:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 08.08.2016, 10:53 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
In meiner Phantasie sieht Anna Roth aus wie Maria Furtwängler. Beide sind Ärztinnen und als Schauspielerinnen erfolgreich. Sie sind reich geboren, von nobler Herkunft zudem. Ihre Männer passen ins Bild. Mühelos gelingt ihnen, wofür sich andere auffressen lassen müssen. Dabei wiegt der Ruhm so schwer wie ein Achselzucken.
Die Schauspielerinnen Anna und Maria schweben über ihrem Fach. Anna findet es an der Zeit, ihre Biografie zu streuen und zieht deshalb Can Evinman heran. Jedenfalls suggeriert sie das dem Ghostwriter. In Wahrheit soll ihm der Auftrag unter die Arme greifen. Ein großer Mann mit dunkler Vergangenheit hält seine Hand über ihn. Can nennt sich selbst Söldner, der bellizistische Vergleich fällt durch jede Prüfung. Can ist ein softer Familienmensch. Der Tod seiner Eltern kam früh, ein Strandunfall bis auf Weiteres. Can wuchs im Heim und in einer Pflegefamilie auf. Das ist Cans Tragödie, überraschend verbindet sie sich mit Strängen in Annas Lebenslauf. Der Biograf und die Bildschöne kommen sich gefährlich nah und zwar in Lebensgefahr.
Can lebt in Hamburg mit Frau und Kindern. „Lebt“ (Leseprobe) spielt in besseren Verhältnissen, man wohnt im Eigentum. Die Hausgemeinschaft rekrutiert sich aus neoliberalem Fußvolk. Sie pflegt die Dünkel freier Demokraten. Can wirkt in diesem Milieu deplatziert. Der Abstand kommt aus der Kindheit, Can rebellierte gegen den Verlust der Eltern in Aufständen, die ihn als schweren Fall erscheinen ließen. Es wird sich noch herausstellen, dass niemand ernsthaft freiwillig etwas mit dem Heranwachsenden zu tun haben wollte, noch nicht einmal die Pflegeeltern.
Orkun Ertener, geboren 1966 in Istanbul, lebt seit 1970 in Deutschland. Seit 1994 arbeitet er als Autor vorwiegend fürs Fernsehen (u.a. Tatort) und wurde für seine Arbeit vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Adolf-Grimme-Preis für „KDD – Kriminaldauerdienst“. Die von Ertener entwickelte Serie, die auch international Beachtung fand, wurde von der Kritik als herausragend wahrgenommen und einhellig bejubelt. Der Autor lebt mit seiner Familie in Köln.
„Hinter jedem großen Vermögen steht ein Verbrechen.“ Honoré de Balzac Ertener hat eine Art Moby Dick von einem Roman geschaffen. „Lebt“ ist so geräumig, dass der Leser sich in Ecken verziehen kann, wo er den Handlungsmotor nicht mehr hört. Die Geschichte reist zurück in der Zeit und hält zum ersten Mal 1942 in Thessaloniki. Deutsche richten als Besatzer ein Massaker unter der einheimischen Bevölkerung an. Jetzt wird es kompliziert, denn Ertener verbaut im Untergrund einen Sonderfall jüdischer Sektenbildung. Die Rede ist von den Dönme – Gegründet von Schabbtai Zvi (1626–1676) als Gemeinschaft jüdischer Konvertiten, die unter osmanischem Druck förmlich zum Islam übertraten. Tatsächlich bewahrte sich in diesem Kreis die Idee, in Schabbtai Zvi sei der Messias auf die Welt zurückgekehrt. Ihre Hochburg war Thessaloniki. Als die Stadt griechisch wurde, gerieten die meisten Dönme – wahrgenommen als Muslime – in die Wanderungsbewegungen eines Bevölkerungsaustauschs. Doch gelang es einzelnen Familien, sich „unsichtbar“ zu machen und vor Ort zu bleiben. Sie waren dann während des Zweiten Weltkriegs den Verfolgungen der Nazis ausgesetzt, nachdem ein Gutachten geklärt hatte, dass Dönme unter dem Schleier des Islam eine hedonistische Auslegung des Judentums kultivierten.
Can erfährt, dass er ein Nachfahre der Dönme ist. Wie ein Stamm haben sie Clan-Äste ausgetrieben und sich in Europa verästelt. Ihre Domäne war lange der Tabakhandel. Can stammt aus einer Tabakdynastie, deren Vermögen Nazis in die Hände fiel. Protagonisten des Verbrechens von Zweiundvierzig spielen Rollen im Roman. Ein gottgleich agierender SS-Sprössling überflügelt die Infamie der Übrigen. Er bedroht Can und seine Familie, so wie er schon. Halt, ich werde doch jetzt nicht den Verteilerkasten der Spannung aus der Verankerung Ihrer Ahnungslosigkeit reißen. Nur so viel noch: Getrieben von Furcht und Neugier, aber auch von einer Macht, die ihn klarsehen lassen will, nimmt Can den Kampf auf. Thessaloniki wird zur Drehscheibe seiner privaten Ermittlungen. Anna unterstützt ihn, auch ein in Frankfurt am Main aufgewachsener Polizist namens Xenos scheint helfen zu wollen. Er geht mit harten Bandagen vor.
Wenn man sich erst einmal eingelesen und die polymorphe Anlage des Romans durchdrungen hat, wird die Lektüre zum Fest. Aktuell Rezension
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