Mittendrin! Dazwischen?

Ein neues deutsches „Wir“ – Her damit!

65 Jahre Grundgesetz und Bundespräsident Joachim Gauck entwirft eine neue Erzählung von Deutschland: Ein Narrativ eines neuen, vielfältigen und zugleich selbstbewussten Deutschlands. 65 Jahre Grundgesetz und Navid Kermani hält eine Rede vor dem Deutschen Bundestag. Das Neue daran ist in Kermanis Worten, dass „ein Kind von Einwanderern an die Verkündung des Grundgesetzes erinnert“. Sowohl Gaucks als auch Kermanis Rede geben Anlass zur Hoffnung. In Deutschland bewegt sich etwas!

Von Houbban, Böge, Laumann Dienstag, 27.05.2014, 8:21 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 29.05.2014, 17:41 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Mit der Rede Joachim Gaucks ist Deutschland in der Realität angekommen. Es ist keine Rede, die eine Vision von einem morgigen Deutschland zeichnet, sondern eine Rede, die zeigt, dass wir bereits in einem vielfältigen Deutschland leben und Geduld, Offenheit und vor allem Akzeptanz notwendig sind, um in dieser Realität anzukommen.

Ein wenig Zukunftsmusik ist aber noch das Bild eines Deutschlands, in dem nicht Phänotyp oder Name über Zugehörigkeit und Erfolg entscheidet. Blonde Haare, blaue Augen – das ist längst nicht mehr alles. Die neuen Deutschen heißen nicht nur Leo, Patrick und Katharina, sondern auch Samia, Moshtari und Cihangir.

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Gauck trug seine Rede während einer Einbürgerungsfeier vor, im Rahmen derer 22 neue Bundesbürger die deutsche Staatsangehörigkeit erhielten. Im Gegensatz zu manch Ewiggestrigem verschließt der Bundespräsident nicht die Augen vor gesellschaftlicher Vielfalt, er fordert sie explizit ein: „Wir wollen dieses vielfältige ‚Wir‘. Wir wollen es nicht besorgnisbrütend fürchten. Wir wollen es zukunftsorientiert und zukunftsgewiss bejahen.“ Richtigerweise bekräftigte er, dass Heimat ein subjektives Gefühl ist. Es geht um Wohlfühlen, nicht um Abstammung.

„Heimat ist ein Ort, wo wir Perspektiven für unser Leben entwickeln können“
So sieht es auch der 23-jährige Cihangir Böge, Mitglied der Jungen Islam Konferenz und angehender Polizeikommissar aus Berlin: „Heimat ist für mich Geborgenheit, Familie, Freunde und Verwandte. Ein Ort, wo wir uns zugehörig fühlen, verstanden werden und Perspektiven für unser Leben entwickeln können. Heimat ist nicht nur ortsgebunden, sondern auch menschengebunden.“ Samia Houbban, 18-jährige Schülerin aus Frankfurt und ebenfalls in der JIK aktiv, ergänzt: „Ganz konkret ist Frankfurt meine Heimat. Hier bin ich geboren und aufgewachsen, zur Schule gegangen und hier habe ich meine engsten Freunde. Natürlich ist Marokko meine zweite Heimat, das Land, in dem meine Eltern geboren sind. Doch ich freue mich nach Reisen nach Marokko immer wieder, nach Frankfurt zurückzufliegen. Es ist nicht dasselbe in Marokko, man trifft auf eine andere Kultur.“

Was ist die JIK? Wir sind ein Forum für Debatten und Austausch, für Wissensgewinn und politische Intervention. Dabei liegt der thematische Fokus auf Konstruktionen und Perzeptionen „des“ Islam und „der“ Muslime in der deutschen Gesellschaft. Ein Repräsentationsanspruch leitet sich daraus nicht ab. Vielmehr geht es um Gesellschaftspolitik, um das Demokratieverständnis und um die Frage nach Zusammenhalt in einem Land, in dem sich seit Jahren ein Wandel in eine Einwanderungsgesellschaft vollzieht. Die Junge Islam Konferenz – Deutschland ist ein Projekt der Stiftung Mercator, des Mercator Program Centers und der Humboldt-Universität zu Berlin. Mehr zum Projekt hier.

Mehrfachzugehörigkeit – geht das?
Es ist absurd, dass Menschen wie Samia und Cihangir oft auf Grenzen ihrer Zugehörigkeit stoßen. In Deutschland geboren und aufgewachsen, sich in deutscher Sprache unterhalten und deutsch träumen – reicht das nicht? Mit Verweis auf andere Länder wie Großbritannien oder die USA äußert Joachim Gauck sein Unverständnis: „Der Blick ins Land zeigt, wie – ja, ich würde sagen – skurril es ist, wenn manche der Vorstellung anhängen, es könne so etwas geben wie ein homogenes, abgeschlossenes, gewissermaßen einfarbiges Deutschland.“ Und auch Samia und Cihangir wundern sich. Cihangir wird in Deutschland als „Türke“ oder „Migrant“, in der Türkei als „Gurbetçi“ wahrgenommen und abgestempelt. Doch warum muss das sein?

Für Samia ist Deutschland die erste Heimat. In Marokko langfristig zu leben, kann sie sich nicht vorstellen. Dass sie weder in Deutschland noch in Marokko über die Rolle der „Ausländerin“ hinwegkommt, stört die 18-Jährige. Sie ist eine der jungen Menschen in Deutschland, für die die Neuregelung des Staatsbürgerschaftsrechts relevant ist. Die bisherige Gesetzgebung betrachtet sie eher als Zwang denn als Möglichkeit zur Entscheidung – „Im Endeffekt entscheiden sich doch die meisten Jugendlichen für den deutschen Pass.“

Gauck: „Es gibt ein neues deutsches ‚Wir‘, die Einheit der Verschiedenen.“
Der Bundespräsident schlussfolgerte, dass vor allem Chancengerechtigkeit und Akzeptanz für Vielfalt erreicht werden müssen: „Chancengerechtigkeit braucht aber noch mehr als Geld, nämlich eine geistige Öffnung. Dass jeder Fünfte in unserem Land eine Einwanderungsgeschichte hat, muss überall sichtbar werden, nicht nur auf dem Fußballplatz oder bei der Tagesschau.“ Cihangir sieht das ähnlich: Für ihn sind vielschichtige Identitäten mittlerweile Normalität in Deutschland. Um dem Gefühl von Heimat und Identität Raum zu geben, wünscht er sich, dass auch die Geschichten der Einwanderer als Teil deutscher Geschichte gesehen werden und Deutschland als gemeinsame Heimat akzeptiert wird.

Doch was bleibt nach der Rede des Bundespräsidenten?
Ja, Deutschland hat seit der Überarbeitung des Staatsbürgerschaftsrechts 1999 notwendige Schritte veranlasst. Die Akzeptanz für Vielfalt steigt. Am Ende des Wegs ist Deutschland aber noch lange nicht. Das sehen auch Samia und Cihangir so. Aus diesem Grund befürworten beide das neue Leitmotiv des Bundespräsidenten und arbeiten gemeinsam mit den anderen Mitgliedern der Jungen Islam Konferenz daran, dass dieses Leitmotiv in einer Enquete-Kommission am Deutschen Bundestag weitergedacht wird, um es zur Grundlage eines breiten politischen und gesellschaftlichen Konsenses zu machen. Aktuell Meinung

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