Buchtipp zum Wochenende

„Die Ungehaltenen“ – Debütroman von Deniz Utlu

Generationenporträt, Liebesgeschichte, Einwandererschicksal, Berlinroman, Road-Novel. Deniz Utlu erzählt pointiert und poetisch die Geschichte zweier Berliner Gastarbeiterkinder der zweiten Generation. Er hat in seinem Roman „Die Ungehaltenen“ alles richtig gemacht.

Von Freitag, 21.03.2014, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 08.08.2016, 10:53 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Elyas ist zu jung für Erinnerungen an jene Mauer, die Jahrzehnte für die Beschaulichkeit einer Sackgasse sorgte: „Ich hatte von dieser ganzen Ost-West-Geschichte nur David Hasselhoff mitbekommen.“

„Looking for freedom“ – Kulturell ragt Elyas überall heraus, will das aber nicht wahrhaben. Seine hintergründige Existenz soll eine Selbstverständlichkeit sein. Ist sie nicht. Viele Abweichungen verbergen sich im Anschein. Elyas studiert, designt Bars. Die Berliner Mitte erträgt der Kreuzberger nur betrunken. „Wie Kuhscheiße“ klebt ihm seine Gegend an den Haken. Er schreibt einen Beitrag zum Integrationsdiskurs und wird vom Bürgermeister als High Potential einer neuen Generation eingeladen. Jetzt hast du es geschafft, sagt die Mutter.

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Elyas kann sich dann doch nur daneben benehmen. Er erklärt ein Klo zu Kunst am Bau. Er sieht Gesichter wie von einem blinden Schnitzer. Er bricht das Studium ab, sein Vater liegt im Sterben. Elyas halluziniert die Väterwelt der Zehnbettzimmer. Sein Gewährsmann für die Vergangenheit ist Onkel Cemal. In dessen Kleiderschrank hängt immer noch die erste Garnitur des Einwanderers. Nun gibt Cemal den Milieubewahrer.

Zu allen Zeiten gehörte die Revolutionsromantik den Jungen als einer Arena der Desillusionierung. In den „Ungehaltenen“ berufen sich alte Männer auf Carlos Marx und Che Guevara. Die Protagonisten der fortgeschrittenen Migration sind Kreuzberger seit vierzig Jahren. Bourgeois finden sie Tennis und Dauerlauf. Sie schreiben Gedichte, verlassen von ihren Frauen. Sie leben in einem Museum, das demnächst abgerissen wird.

Verlorene Seelen in der Retrokapsel – Deniz Utlu erinnert sich an den Text der Eltern: „Du musst dankbar sein und darfst nicht auffallen.“

Man ist zu Besuch in einer Gesellschaft und vielleicht auch schon zu lange da. Utlu bleibt der einzige Türke in seiner Klasse. Mit acht schreibt er seine Lebensgeschichte auf. Hannover liefert der Jugend Schauplätze. Utlu bespielt die Stadt, sieht die Junkies in der Passerelle „aufgereiht“, demonstriert gegen eine Expo. Er organisiert Lesungen und gibt „Freitext“ heraus. Utlu zieht nach Berlin, studiert Volkswirtschaft. Er will wissen: „Warum läuft die Ressourcenverteilung weltweit so schief.“

Das heißt, er interessiert sich für Verteilungskämpfe. Er liest John Stuart Mill, Karl Marx und Adam Smith. Er zitiert Stuart Hall: „Dass die tiefste kulturelle Revolution durch den Einzug der Marginalisierten in die Repräsentation ausgelöst wurde – in der Kunst, der Malerei, der Literatur, überall in den modernen Künsten, in der Politik und im sozialen Leben im allgemeinen. Unser Leben wurde durch den Kampf der Marginalisierten um Repräsentation verändert.“

„Ich könnte auch in der französischen Schweiz leben oder in Ghana“, sagt Utlu. Sein Einzelkind Elyas sucht sich seinen großen Bruder auf der Straße, einen Abitur-Almancılar in der Alpha-Version. Der Kurt (türk. Wolf) heißt Hekim. Wie Mike Tyson liebt er Tauben. In seiner Gegenwart kommt Elyas zur Sache: „Alles Nazis“, sagte ich, „auch die Nichtnazis sind Nazis. Die Clubbesucher, Latte-macchiato-Trinker, Pillenschlucker, Studenten, dein bester Freund. Du selbst.“

Elyas rennt durch Berlin, die meisten Stationen sind kenntlich gemacht. Das Revier erstreckt sich zwischen Möbel Olpe und dem Berghain. Elyas fliegt in die Türkei. Er schätzt sich glücklich in diesem Augenblick auf einem Rastplatz: „Alle Menschen, die im Raum saßen, waren auf der Durchreise.“ Elyas reist gemeinsam mit Hekim – und Aylin, deren Vater im Sterben liegt. Elyas’ Vater ist schon tot. An der Galatabrücke essen die Freunde Alaskafisch.

„Am Bosporus wird Fisch aus Alaska verkauft.“

Hekim schielte zu den Kartons, auf denen „Alaska Fish Ltd.“ stand: „Okay, also: ziemlich frisch?“

Wir lachten los, ich kaufte den Alaskafisch, und wir aßen ihn zusammen mit den Möwen an der Brüstung.“ Aktuell Rezension

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