Kategorisierung
Biodeutsch mit Migrationshintergrund
Die Stadt Hamburg fragt ihre Mitarbeiter nach deren „Wurzeln”. Man wolle feststellen, wie viele „Menschen mit Migrationshintergrund” bei der Stadt arbeiten. Sicherlich gut gemeint – doch diese Kategorisierung ist weitestgehend wertlos, wie ein prominentes Beispiel zeigt.
Von Patrick Gensing Dienstag, 18.02.2014, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 20.02.2014, 7:32 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Früher hießen die Menschen, die nach Deutschland kamen, „Ausländer”. Dabei war es für den Volksmund weitestgehend egal, ob die jeweilige Person hier geboren wurde, seit 30 Jahren in Deutschland lebt oder als Flüchtling ein besseres Leben sucht. Seit der rassistischen Gewaltwelle Anfang der 1990er Jahre bekam der Begriff eine zu offensichtliche negative Färbung. Ausländer – das klingt nach „Ich habe nix gegen Ausländer, aber…” oder einem Mob vor brennenden Flüchtlingsheimen.
Und so setzte sich nach und nach das Begriffsungeheuer „Menschen mit Migrationshintergrund” durch. Für Propheten des Untergangs ein Glücksfall, hat sich diese Konstruktion mittlerweile als viel geeigneter erwiesen, um zwischen echten und nicht-echten Deutschen (gerne als Pass- oder Plastedeutschen bezeichnet) zu unterscheiden. Einen Migrationshintergrund haben alle die, die irgendwie undeutsche Namen tragen oder eine doppelte Staatsbürgerschaft besitzen. Damit fallen nicht nur Ausländer in diese Gruppe, sondern alle, die irgendwas mit Ausländern familiär zu tun haben.
„In Deutschland als Deutsche geborene”
Diese Einteilung ist auch offiziell festgeschrieben: Laut Definition beim Mikrozensus 2005 gehören „alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem nach 1949 zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil“ zu dieser Gruppe. Beim Zensus 2011 wurde dann eine leicht veränderte Definition des Migrationshintergrundes zugrunde gelegt. Hier wurde nicht die Zuwanderung nach 1949, sondern nach 1955 abgefragt.
Und so wurden Bundesbürger zu „Ausländern” – auch wenn sie so nicht genannt werden. Einer von ihnen ist Sandro Matiolli. Er schrieb anlässlich des erwähnten Mikrozensus’ einen lesenswerten Beitrag, in dem es hieß: „Man muss Vordergrund und Hintergrund sauber auseinander halten, sonst weiß man nicht, wo man steht. Doch jetzt drängt der Migrationshintergrund in den Vordergrund. Früher hielt ich mich für einen Schwaben, für einen aus meinem Dorf. Ich wurde gehänselt wegen meines Namens, Sandra, Ravioli, Mafiosi. Erst spät habe ich verstanden, was Namen eigentlich sind: Bilder. Ein Tisch ist ein Tisch und ein Mehmet immer ein Mehmet. Und wenn Mehmet sich am Telefon meldet, weiß sein Gegenüber, mit wem er es zu tun hat. Oder er glaubt es zumindest zu wissen.„
Die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund steigt übrigens. Und das ist kein Wunder, denn heiratet eine Deutsche, deren Familie seit 300 Jahren in Hessen gelebt hat, einen „Menschen mit Migrationshintergrund”, also beispielsweise jemanden, der als kleines Kind vor dem Balkankrieg in Sicherheit gebracht werden musste und seitdem hier lebt, so werden auch deren Kinder einen Migrationshintergrund haben, obgleich sie möglicherweise Müller heißen und nicht einmal die Bundesrepublik verlassen haben.
Sogar das urdeutsche Blutsrecht sticht die Konstruktion „Menschen mit Migrationshintergrund” aus: Auch Menschen, die als Deutsche nach Deutschland zugewandert sind (vor allem Spätaussiedler) gelten als „Menschen mit Migrationshintergrund“.
BA will stärker nachfragen
Obwohl die Bestimmung der „Menschen mit Migrationshintergrund” also maximal unspezifisch ist, scheint sich das Hantieren mit dem Begriff noch auszuweiten. So will die Bundesagentur für Arbeit laut Medienberichten künftig intensiver nach dem Migrationshintergrund ihrer „Kunden” fragen.
Dazu erklärte Volker Beck, innenpolitischer Sprecher der Grünen: „Was da auf den ersten Blick als Empowerment für Migranten daher kommt, ist höchst problematisch. Es gibt gute Gründe dafür, dass in Deutschland keine Behörde mehr Daten über den Stammbaum und dessen Zusammensetzung oder ohne Grund beispielsweise über die Religionszugehörigkeit oder sexuelle Orientierung erfassen darf.” Datenerhebungen dürften nur vorgenommen werden, wenn sie zur Verfolgung gesetzlich geregelter Ziele und Zwecke erforderlich seien.
Hamburger „Kulturkreise“
Auch in Hamburg meint man es nur gut. Die Stadt fragt ihre Mitarbeiter noch bis zum 21. Februar, wie viele von ihnen einen Migrationshintergrund hätten. Die Erhebung sei anonym und freiwillig, wird in dem Schreiben, das Publikative.org vorliegt, zwar betont, doch sei es wichtig, dass möglichst viele Personen sich daran beteiligten. Um zu dokumentieren, wie bedeutsam die Sache sei, wird im Briefkopf der „Erste Bürgermeister” aufgefahren.
Ziel sei es, „die kulturelle Vielfalt unserer Stadt unter unseren Beschäftigten widerzuspiegeln”. Es solle Personal bereitgestellt werden, das beispielsweise über „Erfahrungen aus anderen Kulturkreisen” verfüge.
„Kulturkreis“ – da schwingt christliches Abendland und islamischer Orient mit. Wikipedia weiß dazu: „Die Kulturkreislehre wurde vor allem von der Wiener Schule der Völkerkunde Anfang des 20. Jahrhunderts aufgegriffen, von Pater Wilhelm Schmidt und Pater Wilhelm Koppers. Sie erfanden den Begriff „Urkulturkreis“, der von Anfang an monotheistisch, monogam und patriarchalisch gelebt habe und daher völkerkundlich der wertvollste sei. Die Lehre wurde so zu einer Rassentheorie.„
Was einen Kulturkreis ausmacht, ist nicht leicht zu definieren, wissenschaftlich umstritten und wohl auch nicht Gegenstand der Erhebung. Daher kann hier eigentlich nur der Umkehrschluss gezogen werden: Gemeint ist wohl alles, was irgendwie nicht-Deutsch ist (wobei auch hier wieder ungeklärt bleibt, was das Deutschsein definiert).
Zugleich ist unklar, was für interkulturelle Kompetenzen jemand mitbringen soll, dessen Vater in den 1950er Jahren nach Deutschland eingewandert ist – außer, dass er möglicherweise selbst Erfahrungen mit Diskriminierung sammeln musste – siehe oben das Beispiel Matiolli.
Der Journalist ergänzte in seinem erwähnten Artikel: „… mit der Tatsache, dass fünfzehn Millionen Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund haben, kann man hervorragend argumentieren – je nach politischer Ausrichtung. Man kann sagen: Seht, wir sind doch längst ein Einwanderungsland! Oder man kann vor dem Untergang des Deutschtums warnen. So lässt sich das Wort leicht missbrauchen.“
In der Tat: Die Stadt Hamburg kann sich auf die Schulter klopfen und betonen, wie viele „Kulturkreise” in ihren Behörden wirken. Thilo Sarrazin kann seine Statistiken über das sterbende Deutschland mit Zahlen anfüttern, wonach ein Drittel der hier geborenen Kinder einen Migrationshintergrund hätten. Aktuell Meinung
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Als was gilt ein Deutscher mit türkischem Migrationshintergrund wenn er in die Türkei (zurück)geht? Dort doch wohl auch als jemand mit Migrationshintergrund?
Und dementsprechend ist doch endlich mal die Frage zu stellen, wie viele Leute mit deutschem Pass Migrationshintergrund haben, obgleich sie deutsche Namen tragen und vielleicht sogar deutsche Großeltern haben, aber jahrzehntelang in einem anderen Land lebten, vielleicht dort aufgewachsen sind oder eine Schule besucht haben, eine andere Sprache sprachen und dann zurückkamen.? (Deutsche ‚ integrieren‘ sich nämlich auch nicht so gern anderswo) So addiert sich die Zahl in weitere Millionenhöhen um alle jene, die jahrelang in den USA jobbten, im europäischen Ausland lebten, auf Mallorca, Griechenland oder den Kanaren, oder in LA oder sonstwo ihr Leben fristeten. Auch für sie ist Deutschland ‚anders‘ geworden. Man/frau sieht Dinge anders, wertet sie anders, hat erstmal kein Netzwerk mehr, um in den Arbeitsmarkt reinzukommen, falsche Bildungsascbhlüssse,Probleme in die Krankenkasse zu kommen, hat andere Umgangsformen kennen gelernt, kennt die ‚codes‘ nicht mehr usw. Und ich würde mal annehmen und aus eigener ERfahrung sagen: die meisten fühlen sich nicht mehr so ‚deutsch‘.. Also, auch das sind Leute mit Migrationshintergrund.
Die Evolution hat den Menschen hervorgebracht. Der ist jedoch nicht perfect, bestückt mit Fehlern. Unsere Augen sind nicht perfect konstruiert, unsere Ohren sind nicht in der Lage alle Frequenzbereiche abzudecken. Der Hund riecht viel besser als wir. Die Evolution geht hoffentlich geht noch weiter und wir sind hoffentlich in der Lage eine perfektes Gehirn, Augen…. zu bekommen. Die Probleme mit Migration, Religion, Rasse…. wird sich dann von alleine regeln.
Sehr geehrter Herr Gensing,
sehr gelungener Artikel über die staatliche Einteilung von Menschen und die Infragestellung von ‚deutsch-sein‘. Ich stimme zu: Was ist das denn genau? Vor allem doch eine Orientierung an etwas ENTGEGEN anderen Personen. Auch pflichte ich bei, dass das Ankreuzen eines ‚Ja‘ bei der Frage zum Migrationshintergrund nicht direkt interkulturelle Kompetenzen (was auch immer damit gemeint ist) unterstellen darf. Vielmehr wird mit dem Fragebogen aber auch die Einordnung der eigenen Person in abgegrenzte Kategorien verlangt. Kreuz ≠ Diverse Gesellschaft. Diese Fragen ordnen Gruppen und die sind unnötig.
Die kulturelle Identität ist wie ein nasses Stück Seife, einfach nicht richtig zu fassen.
Der Auffassung des Artikels, nach 50 Jahren Aufenthalt in Deutschland sei der Migrantenbegriff unsinnig und der „Migrant der dritten Generation“ sei ein Widerspruch an sich, wurde allerdings bei einer politischen Veranstaltung mit unserer Integrationsministerin Bilkay Öney widersprochen.
Nur eines möchte ich trotzdem feststellen. Die deutsche Politik definiert Migranten folgendermaßen:
– Alle Menschen die keinen deutschen Pass besitzen =Ausländer
– Alle die erst ab 1950 hierher gezogen sind
– Alle, die mindestens einen Elternteil haben, der erst nach 1950 hierher gezogen ist.
Aber inzwischen gibt es zahlreiche Enkel der 1. Einwanderergeneration,
deren Eltern bereits in Deutschland geboren wurden und vor der Geburt ihrer Kinder die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen haben. Und damit sind diese Kindern eben keine Migranten mehr, wie immer sie sich selbst definieren.