Weltweite Migration
Flüchtlinge an den Grenzen Europas
2012 gab es weltweit über 45 Millionen Flüchtlinge – die höchste Zahl seit 1994. Woher sie kommen, wohin sie gehen und was die Ursachen für die weltweite Fluchtbewegung ist, fasst Franck Düvell zusammen.
Von Franck Düvell Freitag, 14.02.2014, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 20.02.2014, 7:31 Uhr Lesedauer: 17 Minuten |
Im Jahr 2013 wurden aus 69 Staaten beziehungsweise Regionen Krisen gemeldet. 1 2012 gab es weltweit 45,2 Millionen Flüchtlinge – die höchste Zahl seit 1994. Rund 16,34 Millionen waren internationale und 28,8 Millionen interne Flüchtlinge (Binnenflüchtlinge). Darunter waren 7,6 Millionen neu Vertriebene, das heißt 23.000 Menschen pro Tag – die höchste Zahl seit 1999.
Rund 55 Prozent aller Flüchtlinge kommen aus nur fünf Staaten: Afghanistan, Somalia, Irak, Syrien und dem Sudan; 48 Prozent aller Flüchtlinge sind Frauen, 46 Prozent Kinder. 2 Aus wirtschafts-, sicherheits- und einwanderungspolitischen Gründen wird weltweit die Migrationskontrolle ausgedehnt, um zwischen „erwünschten“ und „unerwünschten“ Migrantinnen und Migranten zu unterscheiden. Zu Letzteren gehören auch irreguläre (Arbeits-)Migranten und Flüchtlinge. Insbesondere wurde sukzessive eine Reisepass- und Visapflicht für die Bürgerinnen und Bürger vieler Staaten eingeführt. Doch selten stellen die Verfolgerstaaten ihren Opfern Reisepässe aus, und auch Visa für Flüchtlinge gibt es in den Zielstaaten nicht. Damit wurden effektiv die Reisemöglichkeiten von Flüchtlingen eingeschränkt: Ohne Visum und Reisepass können sie weder den Verfolgerstaat verlassen, noch legal in einen sicheren anderen Staat einreisen.
Zudem wird seit geraumer Zeit die in der UN-Flüchtlingskonvention 3 festgelegte Institution des Asyls weltweit schrittweise eingeschränkt und der Flüchtlingsschutz abgebaut. Flüchtlinge haben es zunehmend schwerer, in einen sicheren Staat, insbesondere einen EU-Staat, zu gelangen und noch schwerer, sich dort ein neues Leben aufzubauen. Grenzsicherung hat Vorrang vor Flüchtlingsschutz bekommen. Das belegen die vielen Fälle von unrechtmäßiger Abweisung sowie die inzwischen über 20.000 Todesfälle an den EU-Außengrenzen seit Anfang der 1990er Jahre. Über 80 Prozent aller Flüchtlinge leben in Entwicklungsländern und weniger als 20 Prozent in den Industriestaaten, vor zehn Jahren waren dies immerhin noch 30 Prozent. 4 Von wenigen Ausnahmen abgesehen, stammen Flüchtlinge überwiegend aus armen Staaten und finden auch überwiegend in armen Staaten Zuflucht. Das globale Flüchtlingsproblem ist also auch ein Armutsproblem.
Im Jahr 2012 lebten rund 1,5 Millionen Flüchtlinge in der EU, das sind nur etwa 3,3 Prozent aller weltweit Vertriebenen. Außerdem haben 479.300 der 7,6 Millionen neu Vertriebenen in den Industriestaaten Asyl beantragt, davon rund 297.000 in der EU. 5 Das sind kaum vier Prozent aller Schutzsuchenden. Darunter waren ein Viertel Frauen und 20 Prozent Minderjährige. 6 Für weltweit 172.000 Flüchtlinge, die 2012 in einen sicheren Staat umgesiedelt werden sollten, hatten die EU-Staaten 5.500 Plätze zur Verfügung gestellt. 7 Der Globale Norden und auch die EU haben sich also mehr oder weniger erfolgreich vor den Flüchtlingen dieser Welt, insbesondere vor den Frauen und Kindern, abgeschirmt. Dies geht in erster Linie auf Kosten der Flüchtlinge, aber auch auf Kosten der Staaten, die stattdessen zu Zielländern der Flüchtlinge werden.
Die Bundesrepublik Deutschland ist allerdings eine Ausnahme in diesem Muster. Insgesamt lebten in der Bundesrepublik im Jahr 2012 nahezu 590.000 Flüchtlinge, außerdem stellten über 50.000 einen Asylantrag, neben Frankreich die höchste Zahl in der EU. 8 Auch hat Deutschland überdurchschnittlich viele umgesiedelte Flüchtlinge aufgenommen, allein 5.000 aus Syrien im Jahr 2013 und in den vergangenen Jahren einige Tausend Flüchtlinge, darunter welche aus Tunesien (200), dem Libanon und Syrien (2501). 9
Dieser Artikel befasst sich vor allem mit der Situation von Flüchtlingen in den Staaten an der Peripherie und in der Nachbarschaft der EU – also die Flüchtlinge, die es entweder (bislang noch) nicht versucht oder nicht geschafft haben, in den sicheren und wohlhabenden „EU-Norden“ zu gelangen oder die teilweise aufgrund der europäischen Gesetzgebung in den peripheren südlichen EU-Staaten bleiben müssen.
Gesetze und Zahlen
In Politik und Gesetzen der EU wurde die Einreise von Flüchtlingen, da sie ja kein Visum haben, de facto als „unerlaubter Grenzübertritt“ kodifiziert, 10 den zu verhindern die Mitgliedstaaten verpflichtet sind. Flüchtlingen „kann“, muss aber nicht, „die Einreise (…) aus humanitären Gründen oder Gründen des nationalen Interesses oder aufgrund internationaler Verpflichtungen gestattet“ werden. 11 Eine Verpflichtung, Flüchtlingen etwa gemäß der UN-Flüchtlingskonvention die Einreise zu gestatten, besteht nicht. Die Visapflicht, die Pflicht zur Grenzüberwachung und die Abwesenheit einer Pflicht des Flüchtlingsschutzes sind die wesentlichen gesetzlichen Regelungen, die Flüchtlinge von der Einreise in die EU ausschließen und sie gesetzlich – aber nicht unbedingt de facto – dazu verpflichten, in einem Staat außerhalb der EU zu verbleiben. Sollten sie es dennoch schaffen, in die EU einzureisen und einen Asylantrag zu stellen, können sie nicht in einen Nicht-EU-Staat zurückgeschickt werden.
Allerdings verpflichtet sie bislang ein weiteres Gesetz, die sogenannte Dublin-II-Konvention, 12 dazu, ihr Asylverfahren im ersten sicheren EU-Staat zu betreiben; hat ein Flüchtling „die (…) Grenze eines Mitgliedstaats illegal überschritten (…), so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig“, so Artikel 10 Absatz 1. Sollten sie dennoch in einen anderen EU-Staat etwa im Norden weiterreisen, werden sie in der Regel in den ersten EU-Staat, in den sie eingereist sind, zurückgeschickt. Dies ist oftmals einer der peripheren Staaten in Ost- oder Südeuropa. Insofern ist diese Regelung geradezu eine Strafe dafür, dass der jeweilige Mitgliedstaat die Einreise nicht verhindert hat.
Die gesetzliche Ausgrenzung von Flüchtlingen beziehungsweise ihr Festhalten in den östlichen und südlichen EU- und Nicht-EU-Staaten hat dazu geführt, dass dort Hunderttausende Flüchtlinge leben. So werden in den EU-Nachbarstaaten rund 530.000 Flüchtlinge registriert oder vermutet sowie 550.000 bis zu über eine Million irreguläre Migranten, die meisten davon in der Türkei. In den EU-Grenzstaaten sind 182.043 Flüchtlinge registriert. Außerdem wird geschätzt, dass dort 1,4 bis 1,64 Millionen irreguläre Migranten leben. Da die meisten Nicht-EU-, aber auch einige EU-Staaten gar kein oder kein funktionierendes Asylsystem haben, sind Flüchtlinge oft ohne Aufenthaltsgenehmigung und de facto „ohne Papiere“. Das heißt, zusätzlich zu den registrierten Flüchtlingen verbergen sich hinter den Zahlen der irregulären Migranten weitere Flüchtlinge.
Jedes Jahr versuchen Flüchtlinge und Migranten aus einem EU-Nachbarland in die EU weiterzureisen, im Jahr 2008 waren das 151.000 und im Jahr 2012 73.000. 13 Die Zahl derer, um die es im Folgenden geht, ist beträchtlich und liegt bei mindestens 2 bis 2,6 Millionen Personen (nicht mitgezählt sind die Flüchtlinge in Russland).
Grundsätzlich haben die weniger wohlhabenden Staaten an der Peripherie oder außerhalb der EU geringere Kapazitäten als die wohlhabenden nördlichen EU-Staaten, um Flüchtlinge aufzunehmen und angemessen zu versorgen. Häufig gibt es bereits für die eigenen Bürger keinen voll funktionierenden Rechtsstaat und nur minimale oder gar keine sozialen Leistungen. Zwar stellt die EU den Mitglied-, Beitritts- und Nachbarstaaten Mittel zur Verfügung, doch sie werden überwiegend zur Abwehr von Flüchtlingen und Migranten eingesetzt. Zudem zeigen etliche Staaten nur eine geringe oder gar keine Bereitschaft, Migranten und Flüchtlinge aufzunehmen oder zu integrieren, und sie verfolgen teilweise fremdenfeindliche Ideologien (etwa die Ukraine, Libyen).
Ferner ist zu unterscheiden zwischen Flüchtlingen und Wirtschaftsmigranten. Zum einen gibt es neben Flüchtlingen noch weitere schutzbedürftige Kategorien von Migranten, insbesondere Familien mit Kindern, Frauen, minderjährige unbegleitete Migranten oder Opfer von Straftaten. Zum anderen leben Flüchtlinge und andere Migranten in der Regel in denselben Wohnvierteln, nutzen dieselben Schmuggler, reisen in gemischten Gruppen und sitzen mitunter sprichwörtlich im selben Boot. Im Jargon des UNHCR wird deshalb auch von „gemischten Strömen“ gesprochen.
- Vgl. International Crisis Group (ICG) (Hrsg.), Crisis Watch 122/2013.
- Vgl. Hochkommissariat für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR) (Hrsg.), Displacement, Genf 2013 (21.10.2013).
- Vgl. Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.7.1951, BGBl. 1953 II, S. 560 (21.10.2013).
- Vgl. UNHCR (Anm. 2).
- Vgl. dass. (Hrsg.), Asylum trends, 2012, Genf 2013 (21.10.2013).
- Vgl. Eurostat (Hrsg.), Asylum statistics 2012 (21.10.2013).
- Vgl. European Council for Refugees and Exiles (Hrsg.), Welcome to Europe, Brüssel 2012 (21.10.2013).
- Vgl. UNHCR (Anm. 2).
- Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) (Hrsg.), Humanitarian refugee intake, Mai 2011 (21.10.2013).
- Vgl. beispielsweise: Regulation No 562/2006 of the European Parliament and of the Council, 15.3.2006; European Commission (EC) (Hrsg.), Commission staff working paper. Impact Assessment accompanying the Proposal for a Regulation of the European Parliament and of the Council establishing the European Border Surveillance System (EUROSUR), SEC/2011/1536, Brüssel 2011 (21.10.2013).
- EC (Anm. 10).
- Vgl. dies. (Hrsg.), Council Regulation (EC) No 343/2003, 18.2.2003 (21.10.2013).
- Die Zahlen basieren auf diversen Berichten der europäischen Grenzschutzagentur Frontex (21.10.2013).
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