Prof. Frank-Olaf Radtke

„Frühkindliche Förderung ist nicht die Lösung“

Statistisch schneiden Schüler mit Migrationshintergrund schlechter ab als ihre Klassenkameraden. Deshalb sollen mehr Kinder möglichst früh eine Kindertageseinrichtung besuchen und dort gefördert werden. Dieser Lösungsansatz hat sich in Forschung, Politik und Medien durchgesetzt. Im Gespräch mit dem Mediendienst Integration kritisiert der Erziehungswissenschaftler Frank-Olaf Radtke dieses Modell.

Von Rana Göroğlu Mittwoch, 13.11.2013, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 17.11.2013, 20:28 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Rana Göroğlu: Sie sprechen in Ihrem Essay von einem „Schulversagen in doppelter Hinsicht“. Was meinen Sie damit?

Frank-Olaf Radtke: In der deutschen Diskussion wird im Grunde nur über das Versagen der Schüler geredet, das Versagen der Schule aber bleibt unbeachtet. Obwohl zum Beispiel die viel zitierten PISA-Studien der OECD gar nicht in erster Linie darauf abzielten, die Leistungen der Schüler miteinander zu vergleichen, sondern die Leistungsfähigkeit von verschiedenen Schulsystemen. Das ist hierzulande völlig untergegangen und zugunsten einer Fokussierung auf frühkindliche Förderung und Ganztagsbetrieb erstickt worden.

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Wurde PISA also fehlinterpretiert?

Prof. Frank-Olaf Radtke, war bis 2011 Professor für Erziehungswissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Zu seinen Schwerpunkten gehören die Themen Erziehung und Migration. Er ist Autor der Studie „Institutionelle Diskriminierung – Die Her- stellung ethnischer Differenz in der Schule“ und u.a. Mitglied im Rat für Migration. Zuletzt war er Sachverständiger der Enquetekommission „Migration und Integration“ des Hessischen Landtages. Seinen Essay „Schulversagen – Migrantenkinder als Objekt der Politik, der Wissenschaft und der Publikumsmedien“ finden Sie hier.

Radtke: In dem Sinne, als die deutsche Politik und mit ihr die Medien versucht haben, zu vermeiden, über das System und seine Leistungsfähigkeit in Bezug auf Integration und Chancengleichheit zu reden: ja. Man scheut sich zum Beispiel davor, das dreigliedrige Schulsystem in Frage zu stellen, weil damit jahrzehntelange Kontroversen in eine neue Runde gehen könnten.

PISA hat auch gezeigt, dass es in Deutschland einen besonders engen Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und dem Bildungserfolg gibt. Ist unser Schulsystem ungerecht?

Radtke: Seit es eine bürgerliche Gesellschaft gibt, geht man davon aus, dass die soziale Stellung eines Menschen über seine individuelle Leistung und damit durch seinen schulischen Erfolg bestimmt werden soll. Das nennt man das meritokratische Prinzip, also das auf Verdienst beruhende Leistungsprinzip. Entsprechend entstand ein Schulsystem, das auf dem Prinzip der Gleichbehandlung basiert und in dem individuelle Leistung am Ende zu verdienter Ungleichheit führt.

Gleichbehandlung klingt auf den ersten Blick gerecht. Was ist falsch daran?

Radtke: Kinder sind aufgrund ihrer sozialen Herkunft verschieden und bringen unterschiedliche Lernvoraussetzungen mit. Die Gleichbehandlung zementiert damit paradoxerweise die Ungleichheit. In Deutschland machen wir zudem durch das dreigliedrige Schulsystem nach der Grundschule verschiedenen sozialen Milieus verschiedene Angebote. Nur die unterschiedliche Behandlung unterschiedlicher Schüler, also ein individualisierender Unterricht, könnte helfen, das abzumildern. Dazu müsste die schulische Struktur und Praxis aber radikal verändert werden.

Sie führen den Misserfolg bestimmter Schülergruppen also hauptsächlich auf das System zurück?

„Das deutsche Schulsystem hat also Mechanismen und Barrieren eingebaut, die Kinder aus bestimmten sozialen Milieus nicht überwinden können.“

Radtke: Grundsätzlich gibt es dafür zwei unterschiedliche Ansätze: Entweder man geht von Selbstselektion aus, also davon, dass der Misserfolg hauptsächlich mit bestimmten Merkmalen der Eltern und ihrer Kinder zusammenhängt – von Sprache angefangen über Kultur und Sozialisation bis zur Wahl des Bildungsganges. Oder man sagt, Erfolg oder Misserfolg sind ein Ergebnis der Fremdselektion. Das deutsche Schulsystem hat also Mechanismen und Barrieren eingebaut, die Kinder aus bestimmten sozialen Milieus nicht überwinden können.

Und was folgt aus diesen beiden unterschiedlichen Ansätzen?

Radtke: Wenn man von Selbstselektion ausgeht, definiert man „Kinder mit Migrationshintergrund“ als Risikogruppe: Sie können die Schulsprache nicht, waren nicht früh oder lange genug im Kindergarten oder haben andere Defizite. Daraus folgt die Idee, diese Mängel durch Frühförderung und andere Maßnahmen ausgleichen zu müssen. Geht man aber eher von Fremdselektion aus, muss man über Selektionspraktiken und Themen wie institutionelle und strukturelle Diskriminierung sprechen. Das ist politisch natürlich sehr viel brisanter und auch schwieriger.

Halten Sie Frühförderung für überflüssig?

Radtke: Natürlich muss jedes Kind angemessen gefördert werden. Wenn man aus einer anderen Muttersprache kommt und eingeschult wird, muss einem dabei geholfen werden, Deutsch zu lernen. Ich bin aber nicht sicher, ob man die Förderung auf den Kindergarten vorverlagern sollte. Ich glaube, es ist Aufgabe der Schule, den Übergang von der mündlichen in die schriftliche oder von der Familien- in die offizielle Schulsprache zu bewerkstelligen. All das allein führt aber nicht zum Erfolg, wie wir nicht erst seit PISA sondern schon lange wissen.

Woran machen Sie das fest?

„Man wird irgendwann sehen, dass sich nicht viel verändern wird, so lange die Rolle und Bedeutung der Migranten und ihrer Nachkommen nicht neu bestimmt und anerkannt wird.“

Radtke: Man könnte das „Katholische Arbeitermädchen vom Lande“ anführen, das in den 60er und 70er Jahren sozusagen das bildungspolitische Problem symbolisierte. Gelöst wurde es nicht dadurch, dass die Mädchen Förderunterricht bekommen hätten, sondern weil man zusätzliche Plätze an Gymnasien geschaffen, aufs Land gebracht und Bildungswerbung betrieben hat. Man hat also die Struktur des Bildungsangebots verändert. Zudem gab es eine gesellschaftspolitische Entwicklung, die das Rollenbild von Mädchen und Frauen verändert hat. Das ist übrigens eine Analogie: Man wird irgendwann sehen, dass sich nicht viel verändern wird, so lange die Rolle und Bedeutung der Migranten und ihrer Nachkommen nicht neu bestimmt und anerkannt wird.

Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat kürzlich eine Studie veröffentlicht. Das Ergebnis: Diskriminierung aufgrund der Herkunft gehört zum Alltag in deutschen Schulen. Bietet das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) ausreichenden Schutz, um dagegen vorzugehen?

Radtke: Im AGG ist zwar recht allgemein auch „Bildung“ genannt. Die Bundesregierung hat das Gesetz und damit die Antidiskriminierungsrichtlinie der EU bisher aber nur partiell umgesetzt, nämlich nur im Zuständigkeitsbereich des Bundes. Bildung ist aber Ländersache. Diese müssten in ihre Schul- und Hochschulgesetze Bestimmungen gegen Diskriminierungen im Bildungsbereich einführen. Bis dato haben aber weder der Bund noch die Länder in Gestalt der Kultusministerkonferenz die Initiative ergriffen, das voranzutreiben. Dass die Antidiskriminierungsstelle auf diese Rechts- und Umsetzungslücke hingewiesen hat, ist sehr verdienstvoll. Ob das Folgen haben wird, bleibt abzuwarten. Aktuell Interview Politik

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  1. Jung, gebildet, ausländisch sagt:

    Huch: so benebelt wird / war man(n) schon. Ich dachte, das mit dem System als „Grund“ sei wieder „durch“ und verworfen. hahaha: im vorauseilenden Gehorsam habe ich mich schon damit abgefunden und mir und meiner sozialen Herkunft die Schuld zugewiesen. „Ja klar, meine Mutter hätte vorab einen Bildungsabschluss erwerben müssen und dann als Bildungsbürger-Gastarbeiter hierher nach D einreisen um mich dann erst mal zu „pampern“, damit ich fit fürs humanistische Gymnasium und Meinesgleichen bin.“ So aber hat der zweite Bildungsweg jede Menge Umwege (auch bei der Reise ins „ich“) produziert – mit der zunehmenden Neigung die Wut immer zugunsten von Schuldgefühlen zu verdrängen (was auch sonst in der „Mehrheitsgesellschaft“). Wie lange hat es gedauert bis es die erste schwarze Uni in den USA gab? … I am … aber angekommen immer noch nicht.

  2. Gesangsfreund sagt:

    „Wie lange hat es gedauert bis es die erste schwarze Uni in den USA gab? … I am … aber angekommen immer noch nicht.“

    Was wäre denn Ihr Wunsch? Eine islamische Uni? Würde das reichen? Oder eine türkische Uni? Oder eine Uni nur für Ausländer, aber ohne Deutsche?

    Gott zum Gruße!

  3. Cengiz K sagt:

    …Mehrere Untersuchungen zeigen, dass Erklärungsmustern, die sich auf die strukturellen Merkmale des Schulsystems beziehen, so gut wie nicht nachgegangen wird….

    …Es kann aber auch an der Forschungsförderung liegen, daran, dass bestimmte Forschungsstränge politisch bevorzugt werden….

    …Ich denke, dass wissenschaftliche Ergebnisse, die meist nicht eindeutig sind und unter Vorbehalt stehen, auf Journalisten treffen, die eindeutige Botschaften weitergeben wollen….

    das ist doch gefundenes Fressen für Forentrolle, oder? Gutes Interview..

  4. posteo sagt:

    Gesangsfreund sagt: …Was wäre denn Ihr Wunsch? Eine islamische Uni? Würde das reichen? Oder eine türkische Uni? Oder eine Uni nur für Ausländer, aber ohne Deutsche?“

    Solche Unis gibt es doch zur Genüge. Das muss man Erdogan lassen, er hat eine beachtliche Bildungsoffensive mit unzähligen Hochschulen angestoßen.

  5. Soli sagt:

    „Ich glaube es ist Aufgabe der Schule den Übergang von der… Familien- in die Schulsprache…“

    Wie wäre mal der Ansatz zu sagen: Es ist Aufgabe „DER ELTERN“ den Übergang zu bewerkstelligen.

    Warum muss die Schule alles leisten? Wäre es nicht eher die Aufgabe der Eltern dafür zu sorgen, dass ihre Kinder die Schule erfolgreich besuchen können? Dafür ist der Erwerb der sprache Grundvorraussetzung.

  6. Ich sagt:

    @Soli

    Nicht alle Eltern könne das leisten und es ist Aufgabe der Schule Kinder lesen,schreiben,rechnen,… zu lehren. Schule ist eine Pflichveranstaltung, alternativen wie Homeschooling in D verboten.
    Warum also sollen Eltern, Psychologen,Erzieher, ect den Job machen, für den Lehrer bezahlt werden?

  7. Armin V. sagt:

    @Ich
    Das Problem ihres Schulmodells ist das, dass Kinder von Einheimischen, dann immer den Kindern von Migranten um mindestens ein Jahr voraus sind. Damit schafft man sich aber nur mehr Probleme und einer grösseren Differenzierung zwischen Einheimischen und Migranten, denn die Kinder die die Landessprache bereits beherrschen werden wohl kaum auf die anderen warten und sich wahrscheinlich auch immer nur mit den Kindern aufhalten mit denen sie sich austauschen können.
    Natürlich sind die Eltern dafür verantwortlich ihrem Kind die Landessprache beizubringen oder zumindest Sprachkurse zu organisieren, wenn man die Landessprache als Eltern nicht beherrscht!

    Sorry, aber es gehört meiner Meinung nach zu den elterlichen Pflichten den Kindern die Sprache beizubringen, die für das vorankommen im Leben wichtig ist und wenn man sich dafür entschieden hat in Deutschland zu leben, dann ist man nunmal gut beraten seinen Kindern deutsch beizubringen und nicht türkisch oder chinesisch.

  8. Mathis sagt:

    Eltern sollten mit den Kindern die Sprache sprechen, die sie selbst am besten beherrschen.Warum aber die Möglichkeiten einer „Frühförderung“ nicht genutzt werden sollten, will sich mir nicht recht erschließen.Es ist doch naheliegend, dass 3 Jahre Sprachförderung in der Kita einiges bewirken können und den Start beim schulischen Lernen erleichtern.Was also will der Autor für die Kinder erreichen? Dass sie die Erfahrung machen, nicht mithalten zu können? Dass sie die Erfahrung machen, nichts zu verstehen?Dass sie spezielle Förderkurse besuchen sollen, also „segregiert“ werden? Was ist der Vorteil „vermiedener“ Förderung?

  9. Jung, gebildet, ausländisch sagt:

    Schmunzel: Konsens ist gut! Kein Problem eher Kultur.
    Gleichzeitig ist es aber auch rational, dass jeder der über eine / seine Position verhandelt wohl erst mal das maximal bzw. das maximal provozierende ausruft um dann in Richtung Konsens zu verhandeln.
    Im übrigen gibt es doch Unis wie z.B. von SAP oder den Kirchen oder Anderen – und alle sprechen hier immer nur von Qualität in der Bildung (und meinen das hoffentlich so) ohne Ideologie. Und wenn eine Ausländer-Uni eben genau das im Sinn hat – etwas mehr Nachwuchs zu generieren dann wäre das – und hier liegt wohl der Ursprung der German Angst (Angst das der soziale Hebel bei den unterpriviligierten noch funktioniert … das die einfach mal Gas geben wo allenthalben schon in der zweiten Generation den Tempomat drin haben) – vor „Konkurrenz“ … aber die belebt das Geschäft liebe Mittelschicht bzw. Mittelmaß-Gesellschaft.

  10. Han Yen sagt:

    Bildung kann keine Chancengleichheit herstellen, weil es nicht der Zweck des Bildungssystem ist. Bildung soll soziale Ungleichheit rechtfertigen und die ethnische Arbeitsteilung sicher stellen. In seinem Werk „Die feinen Unterschiede“ hat der Soziologe Pierre Bordieu das ganz klar gezeigt. Im Bildungssystem zählen Eloquenz und selbstsicheres Auftreten. Soziale Klassen und ethnische Differenzen werden durch das Elternhaus in den Körper eingeschrieben. Der angemessene Habitus entscheidet über die Zugehörigkeit zu den Gebildeten. Die Fähigkeit sich wie ein Fisch im Wasser bewegen zu können wird an sozialisiert. Hochqualifizierte Inder und Chinesen z.B. haben deswegen im deutschen System Probleme. Es kann sein, dass z.B. bei Gruppenarbeit in Projekten Inder und Chinesen die ganze Arbeit machen, dann aber einen weißen Deutschen präsentieren lassen, der dann die Lorbeeren erhält. Da hilft kein Multikulturalismus oder Diversity Management, sondern nur strengere Formen der Arbeitsinspektion.

    Das Einzige, was Migranten hilft, ist die Internationale Schule zur Regelschule zu machen und mit Virtuellen Charter Schools zu flankieren.
    Zusätzlich müßten die Business Schools Quoten auferlegt bekommen. Business Schools sind meist englischsprachig ausgerichtet und heutzutage auch chinesischsprachig. Für das Gros der deutschen Schüler macht die Einführung von Internationalen Schulen keinen Unterschied, wenn die Internationale Schule Hauptschule, Realschule, Gesamtschule und Gemeinschaftsschule ersetzt. Es handelt sich nur um eine Budget-Umschichtung. Die Budgets für Förderschulen können leicht zugunsten Virtual Charter Schools umgeschichtet werden. Eine Ausnahme sollten Spezialschulen für Menschen mit Handikaps bilden.