Flüchtlingsdrama in Lampedusa

Das schlechte Gewissen Europas

Es musste wohl erst so weit kommen. Mehr als 270 Flüchtlinge verunglückten Anfang Oktober vor der kleinen Insel Lampedusa. Dann erst schaffte es das Thema Asyl wieder auf die Tagesordnung der EU. Europaabgeordnete Nadja Hirsch kommentiert in ihrer MiGAZIN Kolumne, was Europa und Deutschland tun müssen.

Von Nadja Hirsch Donnerstag, 10.10.2013, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 03.01.2014, 17:29 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Erst im Juni gratulierten sich die Politiker, weil man nun endlich eine gemeinsame europäische Asylpolitik geschaffen hatte. Als großer Wurf wurde sie bezeichnet, als historisches Ereignis – schließlich hatte es 14 Jahre gedauert, bis eine Einigung erzielt werden konnte.

Doch das Ergebnis war ein Minimalkonsens, in dem die strittigen Punkte ausgeklammert worden waren. Statt Verantwortung von allen Mitgliedsstaaten einzufordern, wurden die Mauern der „Festung Europa“ verstärkt.

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Und nun meldet sich das schlechte Gewissen? Wie kommt es, dass wir erst jetzt aufwachen und erkennen, dass das Asylsystem, wie es jetzt ist, und wie es eigentlich schon seit über 14 Jahren existiert, voller Fehler – und bar jeder Solidarität mit Menschen in Not ist?

Grundlage bildet die Dublin-II-Verordnung, gemäß derer ein Asylantrag dort gestellt werden muss, wo ein Flüchtling zuerst EU-Boden betritt. Damit waren die mitteleuropäischen Länder ihre Sorgen los – denn wer würde schon die europäische Küste umschiffen, um an der Nord- oder Ostsee zu stranden, wenn er in relativ kurzer Zeit vom afrikanischen Festland aus südeuropäische Inseln erreichen kann? Ein Mechanismus wurde in Gang gesetzt, der vielleicht anfangs nicht bezweckt war, aber heute billigend in Kauf genommen wird: Die Abschottung der Außengrenzen und die wachsende Bereitschaft, potentielle Asylsuchende fern vom eigenen Land zu halten. Dublin II und Frontex bedingen sich gegenseitig.

Diesen Teufelskreis können wir nur durchbrechen, wenn Dublin II durch einen europäischen Verteilungsschlüssel ersetzt wird. Das Interesse der Mitgliedstaaten an einem Schutz der Außengrenzen wird bestehen bleiben. Doch wird sich eine höhere Bereitschaft unter den Mitgliedstaaten entwickeln, Menschen in Not zu helfen, wenn künftig nicht automatisch feststeht wird, dass sie das Asylverfahren desjenigen Landes durchlaufen, in dem sie zuerst EU-Boden betreten haben.

Den Grundstein hierfür hat das Europäische Parlament bereits im letzten Jahr gelegt. Damals forderte eine große Mehrheit der Abgeordneten des Europäischen Parlaments die Kommission auf, meinen Vorschlag eines Europäischen Verteilungsschlüssels für Asylsuchende zu prüfen. Für die Berechnung zur Verteilung der Asylantragsteller in der EU sind Bevölkerungsstärke und Wirtschaftskraft eines Landes maßgeblich. Bei der Zuweisung der Asylsuchenden können aber auch Kriterien, wie die Familie oder Sprachkenntnisse berücksichtigt werden, um die Integration zu unterstützen Die Kommission blieb jedoch im letzten Jahr untätig.

Doch nun werden die Rufe aus den Mitgliedstaaten nach einem fairen Verteilungsmechanismus lauter. Dem wird sich auch Innenminister Friedrich nicht verschließen können. Ein europäischer Verteilungsschlüssel sollte ihm nicht fremd sein. Schließlich werden in Deutschland seit Jahren nach dem Königsteiner Schlüssel Asylantragsteller auf die Bundesländer verteilt. Dadurch soll in Deutschland eine Situation vermieden werden, die in der EU seit Jahren Realität ist: In der EU nehmen derzeit nur 10 Mitgliedstaaten 90 Prozent der Asylsuchenden auf.

Welche Auswirkungen also hätte ein europäischer Verteilungsschlüssel auf Deutschland? Hier, lieber Herr Friedrich, wird ihr Szenario eines Flüchtlingsansturms auf Deutschland ad absurdum geführt: Blickt man auf die Zahlen der letzten Jahre, würde Deutschland nur wenig mehr Asylsuchende aufnehmen. Dafür würden andere Mitgliedstaaten weit mehr in die Pflicht genommen, so z.B. Polen, Großbritannien oder Rumänien. Zugleich würden Länder, wie Malta und Zypern, die pro Kopf die meiste Last tragen, immens entlastet werden. Das heißt auch, dass ein Land seine „Quote“ übererfüllen könnte. Bestes Beispiel: Schweden. Dort werden fast alle Asylanträge¨gepositiv beschieden.

Die Einführung eines europäischen Verteilungsschlüssels setzt allerdings voraus, dass geltendes europäisches Asylrecht tatsächlich in allen Mitgliedsstaaten korrekt umgesetzt wird. Bisher hat sich die Kommission – als Hüterin der Verträge – jedoch nicht mit allzu großem Engagement hervorgetan. Künftig muss aber sichergestellt werden, dass ein Asylantrag in allen Ländern gleich behandelt und beschieden wird. Auch die Lebensbedingungen müssen für Asylantragsteller vergleichbar sein.

Neben der Asylpolitik geht es aber um weit mehr: Über Neuansiedlungsprogramme müssen wir Menschen aus Kriegsgebieten, wie z.B. Syrien, die Möglichkeit geben, direkt und auf sicherem Wege in die EU zu gelangen. Die Aufnahme von 5.000 syrischen Flüchtlingen in Deutschland war ein erster richtiger Schritt. Leider haben nur wenige andere europäische Länder ähnlich gehandelt.

Dass es damit aber nicht getan sein kann, zeigt ein Blick auf die politische Landkarte. Rund um Europa befinden sich Gesellschaften im Umbruch – oft verläuft dies nicht ohne Gewalt. Als Gemeinschaft, die seit mehr als einem halben Jahrhundert ohne Krieg auskommt, und der es wirtschaftlich gut geht, sollte es wenig überraschen, dass die EU für viele Menschen das Ziel ihrer Flucht oder einen Ort der Chancen darstellt. Dennoch ist die Zahl der Flüchtlinge, die überhaupt in der EU ankommt, im Vergleich zu den Menschen, die in den Anrainerstaaten Zuflucht suchen, verschwindend gering. Überfordert sind wir also nicht.

Auf dem ersten Treffen der EU-Innenminister nach der Katastrophe von Lampedusa waren noch die Stimmen derjenigen am lautesten, die an der derzeitigen Asyl- und Flüchtlingspolitik nichts ändern wollen. Ohne Zweifel muss das Engagement der EU in den Ländern, aus denen die Menschen zu uns kommen, verstärkt werden, um dort Zukunftsperspektiven zu eröffnen. Allerdings hilft dieser Verweis den Menschen, die sich jetzt auf der Flucht befinden, nicht weiter. Daher kann dieser Ansatz neben einer grundsätzlichen Neujustierung der europäischen Asylgesetzgebung und der konsequenten Umsetzung von Neuansiedlungsprogrammen nur ein Baustein sein.

Ende Oktober findet das Gipfeltreffen unserer Staats- und Regierungschefs statt. Sie dürfen nicht wieder in die Rhetorikstarre verfallen, zu unterstreichen, wie dramatisch und bedauerlich der Vorfall auf Lampedusa ist – ohne Taten folgen zu lassen. Es gibt eine praktikable Lösung, mit der sie das Problem anpacken können. Eines dürfen sie dabei auf keinen Fall vergessen: Asyl ist ein Recht – keine Gnade. Aus dem Beitritt der Mitgliedstaaten zur Genfer Flüchtlingskonvention ergibt sich deren Verpflichtung, Asyl zu gewähren. Diese Verpflichtung darf nicht zum Handeln aus schlechtem Gewissen verkommen. Aktuell Meinung

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  1. x sagt:

    Die FDP hätte auf Innenminister Friedrich auch Druck ausüben können.
    Die Abschaffung der Praxisgebühr haben sie stolz erpressst nach eigenem Bekunden (was ich richtig fand). Dies aber als großen politischen Wurf zu feiern, ist angesichts der Untätigkeit in drängenden Flüchtlings-und Migrationsrechtlichen Herausforderungen beschämend.
    Das Europaparlament hat versagt.

    Nicht mal die Überlebenden des Unglücks erhalten ein Bleiberecht.
    Sie werden mit einer strafe belegt und ihre Abschiebung ist vorzubereiten. So ist die Rechtslage. Gleichzeitig soll eine Staatstrauer abgehalten werden.