Demokratiepaket
Die türkisch-deutsche Partnerschaft ist zu wichtig für Experimente
Die deutsch-türkischen Beziehungen begannen schon zu Zeiten des Osmanischen Reiches und wurden im Laufe der vielen Jahre immer weiter ausgebaut. Ob das gestern vorgestellte Demokratiepaket die Beziehungen weiter festigt, wird die Zeit zeigen.
Von Yasin Baş Dienstag, 01.10.2013, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 01.12.2015, 9:28 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan hat mit dem „Demokratiepaket“, das er am Montag vorgestellt hat, einen weiteren Schritt zur gesellschaftlichen Versöhnung in der Türkei unternommen. Ethnisches-, konfessionelles und religiöses Konfliktpotenzial wurden ebenso entschärft wie gesellschaftlich-kulturelle und politische Fragen, die den türkischen Staat seit ihrer Republikgründung viel Kraft und Nerven gekostet haben.
Dieses Demokratiepaket kommt – auch wenn die deutsche Medienlandschaft nur die Abschaffung des Kopftuchverbots in Teilen des Staatsdienstes betitelt – einer Revolution gleich, da es der kurdischen Minderheit, Muslime, Sinti und Roma sowie Christen gleichwertig behandelt und endlich das schafft, was Jahrzehnte lang verwehrt wurde: gleichberechtigtes Miteinander der Völker, Konfessionen und Religionen. So sieht das Reformpaket unter anderem vor, dass das syrisch-orthodoxe Kloster Mor Gabriel umstrittenes Land zurückerhält, das in einem jahrelangen Rechtsstreit von Enteignung bedroht war.
Großes Interesse auch in Deutschland
Das Demokratiepaket stieß auch in Deutschland auf großes Interesse – immerhin ist die Türkei seit mindestens zwei Jahrhunderten ein enger „Partner“ Deutschlands. Schon zu Zeiten des Osmanischen Reiches wurden viele „Erneuerungen“ im Verwaltungs-, Staats- und Militärwesen durch „deutsche/preußische Experten“ durchgeführt. Beide Großreiche beteiligten sich Seite an Seite am Ersten Weltkrieg. Selbst die später gegründete neue Republik Türkei wurde vom Auswärtigen Amtes (AA) tatkräftig unterstützt. Die Kooperation hat also Tradition und wird auch künftig fortgeführt werden.
Hintergründe der deutsch-türkischen Beziehungen
Die Internetplattform „German-Foreign-Policy.com“ (GFP) hat vor einigen Monaten eine Analyse veröffentlicht, die die Hintergründe der deutsch-türkischen Beziehungen aber auch die Neuausrichtung der türkischen Außen- und Wirtschaftspolitik analysiert. Um es vorweg zu nehmen: Die türkisch-deutschen Beziehungen sind viel zu wichtig und fortgeschritten, um damit zu experimentieren. Deshalb wurde auch Mitte Mai ein „strategischer Dialog“ zwischen Berlin und Ankara unterzeichnet, der künftig regelmäßig „die ganze Bandbreite der deutsch-türkischen Beziehungen abdecken“ und somit die bestehenden Beziehungen intensivieren soll. Die politischen Stiftungen werden dabei sicherlich weiterhin ihre bis dato immense Rolle zur Festigung der deutsch-türkischen Partnerschaft fortsetzen. Hans-Gert Pöttering, Präsident der CDU nahen Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS), möchte zumindest die Beziehungen beider Länder weiter ausbauen. Deutschland ist seit Jahren der größte Handelspartner und Investor in der Türkei.
Türkisch-afrikanisches Handelsvolumen von 2002 bis 2011 verfünffacht
Auf der anderen Seite kümmert sich die Türkei auch um neue politische und ökonomische Partner. So schreibt GFP: „Die Türkei richtet ihre wirtschaftliche und politische Expansion mittlerweile nicht mehr nur auf die arabischen Mittelmeerstaaten Nordafrikas, sondern auf den gesamten Kontinent. Auf der Grundlage dynamisch boomender Exporte hat sich das türkisch-afrikanische Handelsvolumen von 2002 bis 2011 verfünffacht; es soll in diesem Jahr weiter auf insgesamt 32 Milliarden US-Dollar steigen – also auf einen Wert, der sich bereits dem türkisch-deutschen Handelsvolumen annähert. Unterhielt Ankara im Jahr 2005 nur vier Botschaften südlich der Sahara, so waren es Anfang 2012 bereits 15; im Jahr 2008 wurde bei einem Türkei-Afrika-Gipfel in Istanbul, begleitet von einem Türkisch-Afrikanischen Unternehmerforum, eine ‚strategische Partnerschaft’ zwischen Ankara und der Afrikanischen Union (AU) in die Wege geleitet.“
Eigenständige Politik Ankaras als Störfaktor?
GFP spricht jedoch auch von einer „Befürchtung, Ankara könne außenpolitisch eigene Wege gehen und deutsch-europäischen Interessen zuwiderhandeln. Vor wenigen Wochen sorgte der türkische Ministerpräsident mit dem Vorschlag international für Aufmerksamkeit, die Türkei könne womöglich der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) beitreten, zu der sie seit dem Juni 2012 als fester ‚Dialogpartner’ institutionalisierte Beziehungen unterhält. Die SCO ist ein Bündnis, das – getragen von China, Russland und mehreren Staaten Zentralasiens – auf dem Feld der sogenannten Sicherheitspolitik tätig ist und manchen als künftige Alternative zur NATO gilt. Experten halten eine vollständige Abkehr der Türkei vom Westen zwar für unwahrscheinlich. Doch zeigen Pläne, auf ökonomischem und auf energiepolitischem Gebiet beträchtlich enger als bisher mit Russland zu kooperieren – die Rede ist von einem türkisch-russischen Handelsvolumen von bis zu 100 Milliarden US-Dollar im Jahr 2015 -, dass Ankara sich ehrgeizig um neue Optionen bemüht.“
Abnahme der türkisch-europäischen Wirtschaftsleistung
Die Außen- und Sicherheitspolitikexperten von GFP weisen zudem auf diesen wichtigen Punkt hin: „Berlin konnte sich bei seinen Einflussbemühungen bislang stets darauf stützen, dass Deutschland bis heute größter Investor und größter Handelspartner der Türkei ist. Diese Position ist inzwischen jedoch gefährdet: Gingen 2007 noch 56 Prozent der türkischen Exporte in die Eurozone, waren es 2012 nur noch 40 Prozent, während zugleich die Ausfuhren nach Nordafrika und Mittelost von 18 auf 34 Prozent stiegen.“
Ob sich die Türkei in den kommenden Jahren in Richtung Europa und Deutschland bewegt oder von ihr weg, wird sich noch zeigen. Das gestern vorgestellte Demokratiepaket wurde von der EU-Kommission jedenfalls ausdrücklich begrüßt. Ein Kommissionssprecher sagte: „Die angekündigten Maßnahmen lassen Fortschritte in vielen wichtigen Bereichen erhoffen“. Erdogan habe hinsichtlich der Religionsfreiheit, des Wahlrechts, der Versammlungsfreiheit oder des Gebrauchs anderer Sprachen Hoffnungen auf Veränderungen geweckt. Das werde sich auf den nächsten Fortschrittsbericht der Türkei auswirken. Jetzt müsse es aber darum gehen, die angekündigten Reformen auch umzusetzen. Aktuell Meinung
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Dieses Demokratiepaket kommt – auch wenn die deutsche Medienlandschaft nur die Abschaffung des Kopftuchverbots in Teilen des Staatsdienstes betitelt – einer Revolution gleich, da es der kurdischen Minderheit, Muslime, Sinti und Roma sowie Christen gleichwertig behandelt und endlich das schafft, was Jahrzehnte lang verwehrt wurde:
Wo bitte in diesem Paket wird die Behauptung der gleichwertigen Behandlung konkret sichtbar? Kurden dürfen z.B. nur an privaten Schulen muttersprachlichen Unterricht haben, aber nicht an öffentlichen Schulen. Seltsames Verständnis von gleichwertiger Behandlung.
Der engere Kreis um Erdogan (Telekinese-Bulut, Bagis z.B.) haben hinreichend deutlich gemacht, dass sich die Türkei von der EU wegbewegen soll; auch Erdogan selbst hat Deutschland und die EU kriminelles Handeln gegen die Türkei unterstellt und dürfte dank seiner offen verkündeten Verschwörungstheorien kein Gesprächspartner für seriöse Politiker in Europa mehr sein. Im übrigen will er seine persönliche Macht ausbauen – was kaum vereinbar ist mit einer Annäherung an die EU.
Am Demokratiepaket kann ich – außer dem Kopftuchbeschluss – nicht viel demokratischen Fortschritt erkennen, auch keine wesentliche Annäherung an die Kurden, von der Kluft zu den Alevi zu schweigen.
Das ANTI-Demokratie-Paket überwiegt: Schritt für Schritt weniger Meinungsfreiheit, Staatsterror gegen demokratischen Protest, Sultansallüren (etwa in der Art, wie dieses „Demokratiepaket“ geschnürt und präsentiert wird), de facto keine Wahlrechtsreform, die ihren Namen verdienen könnte, weitere Spaltung der Gesellschaft in Pro- und Contra-Erdogan-Lager, ständig neue hetzerische Reden, die klar machen, dass er nur der Ministerpräsident der Hälfte der Türken ist. Immerhin scheint Erdogan seinen antidemokratischen Verfassungsentwurf vorerst aufgegeben zu haben.
Erdogan mag unter Türken im Land und in Europa noch viele treue Anhänger haben – für den Rest der Welt ist er politisch verbrannt. Man redet mit ihm, wenn man nicht anders kann, aber er ist kein Partner mehr, weder für Europa noch für die USA noch für die arabischen Staaten noch für Russland noch für den Iran noch für China …
Der Mann ist eine Belastung für die Türkei; die AKP sollte sich so rasch wie möglich von ihm trennen. (Ich weiß, es muss erst noch viel schlimmer kommen, bis das möglich werden wird.)