Österreichische Befindlichkeiten
Mehr Politische Bildung an den Schulen!
Politische Bildung ist in Österreich Unterrichtsprinzip, aber kein Pflichtfach für sich. Die Forderungen der 1970er Jahre nach sozialer Sensibilität, demokratischer Pluralität und Kritik an Herrschaftsverhältnissen konnten an Österreichs Schulen nicht nachhaltig verankert werden. Es dominiert ein monolingualer Habitus, der institutionellen Rassismus fördert.
Von Helga Suleiman Mittwoch, 25.09.2013, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 26.09.2013, 22:28 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
Die frisch gewählte Bundesschulsprecherin Angie Gross fordert mehr politische Bildung an österreichischen Schulen. Was für ein Wort! Bleibt zu hoffen, dass es zu einer Umsetzung dieser Forderung kommt. Die Bedingungen sind günstig, zumal das Thema Bildungsreform noch immer zwischen Unterrichtsministerium, LehrerInnen und Gewerkschaft, ParteienvertreterInnen respektive Öffentlichkeit hin- und hergewälzt wird.
Der Umgang mit dem Bildungssystem in Österreich ist eine Parabel dafür, wie politisches Denken und Handeln in Österreich funktioniert. Trotz und wegen der Sozialpartnerschaft lassen die großen Blöcke Sozialdemokraten und Volkspartei die letzten Versatzstücke ihrer Ideologien im Bildungsbereich gegeneinander anrücken. Wesentliche Veränderungen sind daher kaum durchzusetzen.
Dabei sind die von alledem am meisten Betroffenen, SchülerInnen nämlich, Verhandlungsmasse. Sie bleiben recht stumm, wenig dringt über die Meinungen ihrer VertreterInnen an die Öffentlichkeit. Und wen verwundert es auch, dass die SchülerInnen mitspielen; – woher soll der Mut zu Kritik und das Engagement für Alternativen denn kommen? Wurde das je gefordert, wurde das je belohnt?
Die Schule gilt als der Ort, an dem Gesellschaft gebildet wird, und sie selbst ist ein Spiegel der Gesellschaft. Zu den wichtigsten Menschen, die Einfluss auf das Bildungs-, Gesellschafts- und Werteverständnis einer Gesellschaft haben, zählen LehrerInnen.
Diese LehrerInnen sind in Österreich größtenteils Angehörige bzw. Abkömmlinge der Mittelschicht, die darüber unreflektiert, wiederum für ihresgleichen unterrichten. Mit dem entsprechenden mittelschichtigen Wertearsenal gewappnet, wehren nicht wenige unter ihnen das ab, was sie als anders ansehen. Sie betätigen die Instrumente der Auslese, die entscheiden, wer dazugehören darf und wer nicht.
Potenziale, die SchülerInnen außerhalb der Norm mitbringen, werden kaum wahrgenommen; der Blick auf diese SchülerInnen ist abwertend. Sie werden als Problemkinder vorverurteilt und als Belastung angesehen. SchülerInnen aus sozial benachteiligten Milieus und unter ihnen insbesondere jene mit Migrationshintergrund sind die Ersten, deren Chancen auf höhere formale Bildung an derartigen emotionalen und bürokratischen Selektionshürden scheitern.
Denn das herkömmliche Schulsystem begünstigt Rassismus. Der defizitorientierte Blick, die Ausleseausrichtung und übertriebene Leistungsorientierung begünstigen institutionelle Diskriminierung an Schulen. Diese kann nahtlos in institutionellen Rassismus übergehen. Vernachlässigung, subtile und offene Ungleichbehandlung, Mobbing bis hin zu direkten, persönlichen Beleidigungen von SchülerInnen durch Lehrpersonen sind klassische Anzeichen für ein derartiges Abdriften.
Besonders deutlich wird Benachteiligung am Umgang mit der Mehrsprachigkeit von SchülerInnen mit migrantischem Hintergrund. Die monolinguale Orientierung, wie sie Serkan Ak in seinem Buch „Sprachgebrauch von Jugendlichen aus Migrantenfamilien und der Umgang damit“ für Deutschland beschreibt, gilt auch für Österreich. Die Mehrsprachigkeit der Jugendlichen wird nicht als Normalität anerkannt, schon gar nicht als „Reichtum“ wertgeschätzt. Mehrsprachigkeit wird vielmehr assoziiert mit „Andersartigkeit“ (der Andere wird als Gegensatz zur eigenen, einsprachigen Norm konstruiert), „ Abgrenzung“ (Ungleichheit wird mittels Distanz festgeschrieben) bis hin zu „Gefährlichkeit“ (Unterstellen schlechter Absichten, von Abschottung bis hin zu Kriminalität). Die monolinguale Ausrichtung stützt sich auf die Annahme, dass SchülerInnen eine homogene Masse sind, bzw. dazu werden sollen.
İnci Dirim vom Germanistik-Institut der Uni Wien stellt fest, dass die meisten Lehrkräfte in Österreich keine Vorstellung vom Umgang mit Deutsch als Zweitsprache und Mehrsprachigkeit haben. Kenntnisse über das Unterrichten in mehrsprachigen Klassen werden in der LehrerInnenausbildung nicht angeboten. Lehrbücher sind in bildungssprachlichen Fachsprachen verfasst. Das Fach Deutsch orientiert sich am Bild eines Kindes, das Deutsch als Muttersprache lernt – auch dann, wenn in einer Klasse fast ausschließlich DaZ (Deutsch als Zweitsprache)-SchülerInnen sitzen. Der monolinguale Habitus an österreichischen Schulen ist Grundlage von Ungleichberechtigung und Grund für frühe Bildungsabbrüche von Jugendlichen mit migrantischem Hintergrund.
Themen wie diese bieten sich für das Unterrichtsprinzip Politische Bildung an. Der Schulalltag selbst ist Stoff zur „Erziehung zur Lebenswirklichkeit“, wie der Begriff „Politische Bildung“ von Fred Sinowatz1976 in einem ersten öffentlichen Entwurf definiert wurde. Zugrunde lag die Idee, dass „der junge Mensch Kriterien gewinnen soll, um zu kritischer Urteilsfähigkeit und rational kontrollierten Entscheidungen zu gelangen“, wofür Selbsttätigkeit und Initiative der SchülerInnen wesentliche Voraussetzungen seien. Dem Vorhaben, Politische Bildung als Pflichtfach in das Schulorganisationsgesetz aufzunehmen, wurde jedoch so massiver Widerstand entgegengesetzt, dass es nur ein Erlass schaffte, Politische Bildung wenigstens als „Unterrichtsprinzip“ zu etablieren. Wie aber definiert sich das „Unterrichtsprinzip“?
Jene Definition, wonach es die Grundlagen schaffen soll für „die Befähigung und Bereitschaft des Schülers, gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse und Machtverteilungen auf ihre Zwecke und Notwendigkeiten und die ihnen zugrunde liegenden Interessen, Normen und Wertvorstellungen zu prüfen und in Bezug zu persönlichen Auffassungen zu setzen“ 1, wurde von den konservativen Vertretern der Landwirtschaftskammern abgelehnt. Sie befürchteten die Zerstörung der gemeinsamen grundlegenden Wertvorstellungen „unserer“ Gesellschaft. Auch wollten sie die SchülerInnen nicht zu kritischem Urteil befähigen (was ebenfalls im Erlass vorgesehen war), da das Wort „kritisch“ zu negativ sei und wiederum die Ablehnung bestehender Wertvorstellungen hervorrufen könnte.
Eine weitere Grundlage des Unterrichtsprinzips, die den Hütern einer vermeintlichen österreichischen Wertegemeinschaft zum Opfer fiel, wollte fördern: „…die Fähigkeit, Möglichkeiten zur Erweiterung des eigenen Bildungsstandes zu nützen, und die Bereitschaft, auch anderen grundsätzlich jede Erweiterung des Bildungsstandes zuzugestehen und sie darin zu unterstützen; die Erkenntnis, dass in der Lernfähigkeit jedes Menschen und seiner ständigen Lernbereitschaft der Schlüssel für eine Selbstbestimmung des eigenen Weltbildes liegt.“
Bezeichnend, dass die Forderung nach den„Kenntnissen der eigenen Rechte“ der SchülerInnen ebenfalls fallen musste.
Im Vergleich zum „Erlass zur staatsbürgerlichen Erziehung“, der vor 1978 die SchülerInnen zu braven, gehorsamen Werteträgerinnen des Staates Österreich erziehen wollte, mutet das Vorhaben der siebziger Jahre geradezu revolutionär an. Es scheiterte. Übrig blieb ein vages Gerüst, das sich um klare Aussagen drückt, Interpretationen in jede Richtung freien Lauf lässt und zu Methodik/Didaktik leere Phrasen drischt.
Mittlerweile gibt es genug Materialienangebote für engagierte LehrerInnen, die sich um fortschrittliche Interpretation und Umsetzung des Unterrichtsprinzips Politische Bildung bemühen. Aber es geht um das Grundverständnis. Politische Bildung ist nach wie vor ein rein formales Anhängsel an andere Fächer. Es kommt schlicht und einfach zu kurz, und es wird nichtig und wertlos von jenen Unterrichtenden gehalten, die kaum mehr als die herkömmliche Stoffvermittlung als ihren Auftrag verstehen.
- Von der Schulreformkommision überarbeitete Version des Entwurfes zu einem Grundsatzerlass, s. Andrea Wolf (Hgin ): Der lange Anfang – 20 Jahre politische Bildung in den Schulen, Wien 1998, Anhang.
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Die Kritik an der Hegemonie der weißen, weiblichen Mittelschicht im Erziehungswesen ist richtig, weil sie zu institutionellen Rassismus führt. Jedoch muss man diese Erkenntnis im Zusammenhang sehen. Die weiße, weibliche Hegemonie im Erziehungswesen führte zu einem Anwachsen formal besser qualifizierter weißer Frauen. Auf dem Arbeitsmarkt wurde das in Gender Disparitäten übersetzt. Weiße Frauen besetzen Berufsgruppen ganz unten und im oberen Drittel der Berufsprestige-Skala. Sie werden Friseuse, Ärztin, Rechtsanwältin, Erzieherin und Lehrerin. Das Gros der Berufe bleibt weiterhin Männern vorbehalten. Warum ist das so ? Es liegt vor allem daran, wer den Arbeitsmarkt dominiert. In Frankreich ist das der Staat, Französinnen können formal hohe Abschlüsse besser in Berufsprestige auf dem Arbeitsmarkt übersetzen. In der BRD haben wir einen lokal organisierten Ausbildungsbetrieb, der zu komplex für die staatliche Aufsicht ist. Hier finden wir ein weißes Männer-Kartell zwischen Arbeitgeber, Ausbilder und Arbeitnehmer, dass Frauen und Migranten immer ganz hinten in die Warteschlange einreiht. Eine Gleichberechtigung aller Muttersprachen in der Schule hilft gegen das ethnische Kartell nicht weiter, sondern man muss auch den Erzieher-Beruf akademisieren und am wirtschaftlichen Umbau zugunsten akademisierter Berufe und der exportorientierter Dienstleistungsindustrie arbeiten. Dafür ist die englische Sprache ausschlaggebend, nicht deutsch oder eine minoritäre Muttersprache. Englisch als Unterrichtssprache versetzt alle auf den gleichen Stand. Deutsch sollte Deutschunterricht vorbehalten sein.