Russischsprechende Wähler

Eine neue (alte) Chance für die deutsche Politik

Über drei Millionen Menschen mit postsowjetischem Migrationshintergrund sind bei der anstehenden Bundestagswahl stimmberechtigt. Ein guter Grund, um diese Wählergruppe näher zu betrachten. Dabei tut sich eine Partei im besonderen Maße hervor, wie Dmitri Stratievski erklärt.

Von Donnerstag, 08.08.2013, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 26.10.2015, 14:46 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Bereits in den 1920-30er Jahren des 20. Jahrhunderts gab es in vielen deutschen Städten eine große russische Diaspora, darunter etwa 350.000 Menschen in Berlin. Heute leben in der Bundesrepublik zwischen vier und fünf Millionen Menschen mit postsowjetischem Migrationshintergrund, davon über 200.000 in der Hauptstadt. Sie sind überwiegend in den großen Ballungsräumen wie Berlin, Hannover, Hamburg und München Zuhause. Die fünf Einwanderungswellen der russischsprechenden Bürgerinnen und Bürger aus dem Russischen Reich, der Sowjetunion bzw. ihren Nachfolgenstaaten haben unsere Gesellschaft kulturell bereichert.

Russisch ist hierzulande die zweithäufigst gesprochene Muttersprache. Die Russischsprachigen vertreten verschiedene Nationalitäten und Glaubensgemeinschaften. Sie sind evangelisch und katholisch, jüdisch und atheistisch. Zu der Gruppe gehören Deutsche aus Russland, Kasachstan, Kirgisien und der Ukraine, jüdische Emigrantinnen und Emigranten, Flüchtlinge aus dem Kaukasus und Mittelasien, Fachkräfte und Studierende. Trotz dieser Diversität verfügt die Community über gemeinsame Mentalitätswurzeln im postsowjetischen Raum und über gemeinsame Identitätsmerkmale. Diese Sachlage ist in der deutschen Bevölkerungslandschaft einmalig.

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Wen wählt die russischsprachige Bevölkerung in Deutschland?
Zu Wahlpräferenzen der russischsprachigen Bevölkerung in Deutschland gibt es keine zuverlässige Datenerhebung. Wenige Umfragen auf deutsch-russischen Internetforen sind nicht repräsentativ. Pauschaliert eingeschätzt, unterstützten die Deutschstämmigen aus Russland im vergangenen Jahrzehnt eher die CDU, während die Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion ihre Sympathien der SPD und Teile der oberen Mittelschicht sowie Unternehmer der FDP schenkten. Die ältere Generation wählte vereinzelt auch die PDS/WASG/Linkspartei.

Die Grünen wurden bei den Russischsprechenden nur dürftig unterstützt. Im nicht-demokratischen politischen Lager der russischsprechenden Bevölkerung waren auch die NPD und Republikaner aktiv. So haben rechtsextreme Propagandisten Aufnahmeheime der Deutschen aus Russland gezielt besucht und in mancher Hinsicht erfolgreiche Anwerbeversuche aus dem Kreis der hier geborenen Deutschen nicht anerkannten und frustrierten Jugendlichen unternommen.

Im zweiten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts änderte sich die Lage spürbar. Viele Deutsche aus Russland kehrten der Union den Rücken, was unter anderem an der Verschärfung der Aufnahmeregelung für den Zuzug von Familienmitgliedern lag.

„Russisch sprechende Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in Berlin“ (RuSiB)
Von der oben genannten Gesamtzahl von vier bis fünf Millionen Menschen mit postsowjetischem Migrationshintergrund besitzen etwa 70 Prozent die deutsche Staatsbürgerschaft, darunter alle 2,5 Millionen Russlanddeutsche, die im Sinne des Artikels 116 GG als deutsche Volkszugehörige behandelt werden. Somit sind über drei Millionen Menschen mit postsowjetischem Migrationshintergrund bei den Bundes- und Landtagswahlen stimmberechtigt. Auf kommunaler Ebene kommen noch Einwanderinnen und Einwanderer aus den baltischen Staaten hinzu sowie Bürgerinnen und Bürger anderer EU-Länder, die aus dem postsowjetischen Raum stammen und sich ständig oder dauerhaft in Deutschland aufhalten.

Das große Wählerpotential dieser Bevölkerungsgruppe wird aber von der deutschen Politik zu wenig genutzt. Die russischsprechende Community wird von politischen Parteien zumeist nicht als eine Zielgruppe betrachtet. Innerhalb der etablierten Parteien gibt es bisher nur eine einzige Institution, die sich mit der politischen Aufklärung und Einbeziehung russischsprachiger Menschen ins gesellschaftliche Engagement explizit beschäftigt sowie sich um Lösungen gruppenspezifischer Problemen kümmert. Das ist die Projektgruppe „Russisch sprechende Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in Berlin“ (RuSiB) in der Landesarbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt in der SPD Berlin, die mit einer Internetpräsenz bei Facebook und beim russischen sozialen Netzwerk Odnoklassniki.ru sowie mit einem eigenen Flyer ausgestattet wird.

Die RuSiB verbindet ein klares Bekenntnis zur Sozialdemokratie. In einigen Berliner Wahlkreisen wird auch der Bundestagswahlkampf zielgruppenbezogen organsiert. Die Sorgen der Russischsprechenden werden jedoch nicht ausschließlich durch die Parteibrille betrachtet. Etwa die Hälfte der RuSiB-Aktiven hat kein Parteibuch. Die Union versucht indes, ihr Stammklientel zu behalten und die Partei für die Deutschen aus Russland attraktiv zu machen. Bundesweit sollte ein Netzwerk von lokalen Aussiedlerbeauftragten funktionieren, das Berichten zufolge aber nicht flächendeckend sei. Eine spezielle Homepage für die Aussiedler wurde seit langem nicht aktualisiert. Mit den anderen Gruppen der Russischsprachigen wird angeblich nicht gezielt gearbeitet. Bei der FDP, Linkspartei und bei den Grünen sind keine Gruppen bekannt, die sich um die Belange der Menschen mit postsowjetischem Hintergrund kümmern und/oder diese innenparteilich vereinen, auch wenn einige Kandidatinnen und Kandidaten ihre Wahlkampfmaterialien auf Eigeninitiative ins Russische übersetzen lassen.

Die Menschen mit postsowjetischem Hintergrund haben nicht nur für die gesamtdeutsche Bevölkerung und andere Migrantencommunities typische Sorgen und Verhaltensmuster bei der politischen Entscheidungsfindung, sondern auch gruppenspezifische Merkmale. Diese müssen von Parteianalysten erforscht werden. Damit kann ein sicherer Zugang zu der russischsprachigen Gemeinschaft gefunden werden. Die Wählergunst dieser Gruppe kann das Wahlergebnis am 22. September stark beeinflussen. Leitartikel Meinung

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  1. posteo sagt:

    Sie schreiben: Sind evangelisch und katholisch, jüdisch und atheistisch.
    Dabei haben sie die Russisch-Orthodoxen vergessen, die die größte Gruppe der orthodoxen Christen ausmachen. Auch Ukrainer sind mehrheitlich russisch-orthodox. Katholiken finden sich überwiegend unter den Russland-Deutschen.

  2. Dmitri Stratievski sagt:

    Sie haben recht. Auch die Muslimen aus Mittelasien, Kasachstan sowie aus den russischen Teilrepubliken wie Tatarstan u.a. sind nicht namentlich erwähnt worden. Das war keine genaue Auflistung, sondern ein Kurzhinweis auf die Vielfältigkeit der Gemeinschaft. Trotzdem würde ich die Liste vervollständigen: “ Sie sind evangelisch und katholisch, orthodox und muslimisch, jüdisch und atheistisch“.

  3. Lionel sagt:

    Die Existenz der Projektgruppe RuSiB in unserer Partei war mir bisher nicht bekannt.
    Es wäre schön, wenn es entsprechende Gruppen auch in anderen Bundesländern gäbe.
    Denn dies scheint nötig zu sein – gerade bei den Russischsprachigen ist die normale Parteiarbeit doch sehr mit Schwellenangst besetzt, jedenfalls nach meinem Eindruck.
    Viel Erfolg, Dmitri!

  4. Lieber Lionel, das stimmt. Russsichsprachige habe gewisse Besonderheiten, die u.a. auf komplizierte Sowjetgeschichte bzw. damit verbundene Politikverdrossenheit zurückzuführen sind. Dies ist aber mit einer ehrlichen Absprache und vor allem mit reichlich Zeit zu überwinden. In anderen Bunderländern haben wir viele Sympis mit und ohne Parteibuch, die uns gerne zur Seite stehen und gute Ausgangspositionen haben.