Kindererziehung

«Sale Juif»*, sagte der Christ zum Muslimen

Erziehung geschieht tatsächlich zuerst im Elternhaus, schreibt Schriftstellerin Anja Siouda und fragt: In welcher Epoche befinden wir uns? Wo und warum wird dergleichen ausgesprochen? Wird es gebührend geahndet?

Von Anja Siouda Freitag, 01.02.2013, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 06.02.2013, 6:17 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Fangen wir von hinten an: Geahndet wurde es. Schauplatz des Geschehens war eine französische Privatschule, christlich-katholisch, aber für Schüler anderer Konfessionen und Religionen offen. Der Grund war ein Streit unter Halbwüchsigen. Geschehen ist es vor vier Jahren, nicht so wahnsinnig weit weg von 2013, aber doch eine ganze Weile her seit der Erfindung der „Achse des Bösen“ und noch viel weiter weg von einer gewissen „Kristallnacht“.

Wir sind also in einer Sekundarschule (Collège) in einer französischen Kleinstadt nah der Schweizer Grenze. Der beschimpfte Junge hat zwar die Religion seines nordafrikanischen, muslimischen Vaters geerbt, nicht aber seinen Stolz – eher tendiert er dazu, die Konzilianz seiner mitteleuropäischen, ursprünglich christlichen Mutter zu teilen. Geschichte, z.B. über die Gründung des Staates Israel, lernte er zudem in einem europäischen Schulprogramm, nicht in einem arabischen.

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Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und die Geschehnisse der Weltgeschichte allgemein sind für ihn weit weg, er ist ein Jugendlicher des 21. Jahrhunderts. Sie hat mit seiner virtuellen und pubertären Welt wenig zu tun. Er hat nicht die gleichen Assoziationen wie seine Eltern und seine Lehrer.

Er weiss aber, dass es eine antisemitische Beschimpfung ist. Sogar im wahrsten Sinne des Wortes, denn nicht nur Juden, auch Araber sind Semiten.

Dem Schuldirektor verschlägt es die Sprache, gehört die Rettung von verfolgten Juden über die Gartenmauer zur Schweizer Grenze hin – dank eines Gründermissionärs, der dafür später hingerichtet wurde – doch zur realen Geschichte seiner Schule. Und für die Schüler steht der Besuch eines KZs auf dem Programm, anlässlich einer kulturellen Auslandsreise.

Der Vater runzelt die Stirn, die Mutter ist perplex. Als Eltern steigen sie nicht auf die Barrikaden, aber der Beschimpfer wird vom Schuldirektor drei Tage von der Schule verwiesen und zur Entschuldigung beim Beschimpften verpflichtet.

Nach drei Tagen geht man wieder zur Tagesordnung über, vergisst das unbedacht hingeworfene Schimpfwort. Ein jugendlicher Ausrutscher halt. Eine Banalität, in der Hitze des Gefechts geschehen.

Der Mutter aber gibt es zu denken. Würde ihr eigener Sohn eine solche Beschimpfung aussprechen? Sie legt die Hand ins Feuer, dass er dies nicht tun würde. Vielleicht hat sie aber auch eine idealistische, mütterlich verbrämte Sicht von ihren eigenen Kindern. Obwohl es Wunschkinder sind, decken sich die Wünsche und Ansichten der Kinder nicht unbedingt mit denjenigen der Eltern. Das aber ist ein anderes Thema. Oder doch nicht? Toleranz fängt in der Familie an, Eltern lehren sie ihren Kindern, leben sie ihnen vor und die Kinder wiederum lehren sie den Eltern. Wer das eigene Kind ausgrenzt und kritisiert, weil es nicht den eigenen Wünschen und Vorstellungen entspricht, weil es eine eigene Meinung hat, vielleicht im Laufe des Erwachsenwerdens eine eigene Weltanschauung vertritt, legt den Grundstein für Intoleranz – in der Gesellschaft. Wer Kindern in der eigenen Familie tolerant begegnet, macht aus ihnen tolerante Menschen. Wer in der eigenen Kindheit Toleranz erlebt hat, lebt sie und gibt sie weiter.

Die oben erwähnte Mutter bemüht sich also darum, ihren eigenen Nachwuchs seit Jahren zu Offenheit und Unvoreingenommenheit zu erziehen.

Erziehung geschieht tatsächlich zuerst im Elternhaus. Dafür zu sorgen, dass der andere Mensch respektiert und geachtet wird, egal welcher Nation er angehört, welche Hautfarbe er trägt und welche sexuelle Orientierung er hat, ist Aufgabe der Eltern. Der andere ist zuallererst ein Mensch! Seine Sprache, seine Kultur, seine Religion oder gegebenenfalls sein Atheismus mögen einem noch so fremd vorkommen, er bleibt ein Mensch, der in jeder Hinsicht auf der gleichen Ebene mit allen anderen Menschen steht. Seine Fremdheit ist keine Bedrohung, sondern eine Bereicherung für das eigene Leben. Was ungewohnt und neu ist, ist eine Herausforderung. Es zwingt einen dazu, die Welt mit anderen Augen zu sehen, nicht nur aus seinem eigenen engen Blickwinkel, den man sonst egozentrischer- und ethnozentrischerweise für die beste aller Welten halten könnte.

*Französisch für „Dreckjude“ Aktuell Meinung

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