Oma II
Familienanschluss
„Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen.“ (Max Frisch) Natürlich kamen Menschen. Männer und Frauen, Söhne, Töchter, Väter und Mütter, Tanten und Onkel. Aber wenig Omas.
Von Kenan Zöngör Freitag, 14.10.2011, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 19.10.2011, 3:33 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Denn Deutschland brauchte Arbeitskräfte. Jung und gesund.
Diese kamen aus der Türkei nachdem sie im wahrsten Sinne des Wortes auf Herz und Nieren geprüft worden waren. Sie arbeiteten dann hart und viel. Auch als aus jungen Männern und Frauen, die ledig nach Deutschland gekommen waren, Mütter und Väter wurden, arbeiteten sie. Viele sogar noch härter und noch mehr, denn nun galt es neben dem eigenen Traum und der Familie in der Türkei auch seine kleine Familie in Deutschland zu finanzieren.
Nicht selten arbeiteten Mutter und Vater beide in Vollzeit. Ohne die für viele Einwanderer aus der Türkei gewohnte Grossfamilie, die in solchen Fällen die Kinder beaufsichtigt hätte, waren sie auf Hilfe angewiesen.
Und hier kam doch noch eine Oma ins Spiel. Allerdings nicht die aus der Türkei, sondern aus der Nachbarschaft.
Bei ihrem Eintreffen in Deutschland kamen die Einwanderer zunächst in Arbeiterheimen unter, wo sie mit vielen anderen in Schlafsälen mit Etagenbetten und Gruppenküchen wohnten. Sobald sich aber ein Teil des Familienlebens nach Deutschland verlagerte und Ehegatten und Kinder kamen, bezogen sie eine eigene Wohnung.
Meist lagen diese Wohnungen in einfachen Vierteln mit geringen Mieten. Dort wohnten besagte deutsche Omas; alte Frauen, die meist verwitwet und verrentet, ihre Tage mit Hausarbeit und dem Warten auf Besuch verbrachten.
Schnell schlossen sich die überforderte Einwandererkleinfamilie und die deutsche Oma zu einer erstaunlich stabilen Notgemeinschaft zusammen. Die Einwanderer wussten ihre Kinder versorgt und die anfängliche Isolation gelockert, denn ihr soziales Leben endete nicht mehr an der eigenen Haustür.
Die Oma entkam Ihrer Einsamkeit, indem sie sich um ihre türkischen Pflegeenkel kümmerte und hatte unerwarteten Familienanschluss. Dieser konnte durchaus zusätzlich zu eigenen Kindern und Enkelkindern bestehen. Schliesslich wohnte die türkische Familie schlicht näher. Ausschlaggebend war die Selbstverständlichkeit mit der die deutsche Oma in die täglichen Abläufe der türkischen Familie integriert war.
Schon zum Frühstück gingen die Kinder zu ihr, nach der Schule nahm sie die Oma in Empfang und half bei den Hausaufgaben. Sie sah nach ihnen, bis die Eltern von der Arbeit kamen.
In vielen Fällen war für die Kinder die deutsche Oma die Hauptbezugsperson. Sie lernten die Sprache, Sitten und übernahmen Essgewohnheiten, die ihre Eltern vor Herausforderungen stellten. Konnten sie der Oma das Schweinefleisch verbieten? Wäre das nicht respektlos zumal sie nicht nur Autorität sondern mittlerweile unentbehrlich war?
Manchmal löste sich dieser Konflikt auf ungewöhnliche Weise: die Kinder zogen buchstäblich um, um bei der deutschen Oma zu wohnen. Ganze Lebensphasen verbrachten die Kinder so. Ähnlich den Kofferkindern, die von Vätern und Müttern der ersten Generation aus Deutschland in die Türkei geschickt wurden, entfremdeten sich die Pflegeenkel von ihren Eltern und fühlten sich der deutschen Oma zugehörig.
Bis Tod, Umzug oder Pubertät dieser Verbindung ein Ende setzte.
Nachdem sich diese wahren Weltenwanderer zwangsläufig von den Erwartungen der Eltern emanzipierten, können Sie nun zurückblicken. Auf die Türkei der Eltern, das Deutschland der Oma und eine Gegenwart der Verunsicherung hinsichtlich nationaler Identitäten. In nicht einmal fünfzig Jahren haben sie fast ein Jahrhundert umspannt.
In 2011 sind viele mittlerweile selbst Eltern und einige sogar schon Oma oder Opa. Wenn sie auch nicht wissen, wie sich die gesellschaftlichen Herausforderungen des postmigrantischen Deutschland bewältigen lassen, fühlen sie, dass es geht.
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