Deutschklassen

Eine neue Form der Segregation?

Trotz vieler nationaler und internationaler Regelungen und Verbote gibt es im deutschen Bildungssystem vielfältige, meist informelle Formen der Ausgrenzung und Segregation von Migrantenkindern. Dr. Diana Sahrai analysiert.

Von Dr. Diana Sahrai Freitag, 11.01.2013, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 17.01.2013, 1:27 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

„Spezialklassen“, „Eliteklassen“, „Deutschklassen“, „Deutsch-Garantie-Klassen“: Mit solchen oder ähnlichen Schlagzeilen erlangten separierte Klassen – insbesondere an Berliner Schulen – hohe öffentliche Aufmerksamkeit. Solche Klassen werden von Schulen in Stadtvierteln mit hohen Migrantenanteilen angeboten, um dem Ruf einer Brennpunktschule zu entkommen. Dabei führen die einen für die Aufnahme in ihren Schulen Sprachtests ein. Andere versuchen durch die Errichtung von Spezialklassen, ebenfalls gebunden an deutsche Sprachkompetenzen, die leistungsstärkeren Schüler von den leistungsschwächeren innerhalb der Schule zu trennen.

Ein Gymnasium in Berlin hatte 2010 seine Klassen sogar nach ethnischer Herkunft und Religion der Schüler sortiert. Im August erregte eine Berliner Grundschule öffentliche Aufmerksamkeit, weil sie Kinder unterschiedlicher Herkunft in getrennten Klassen beschulte. Da Eltern ihre Kinder als Gruppe anmelden konnten, bestand eine Klasse fast nur aus deutschstämmigen und die Parallelklasse nur aus türkisch- und arabischstämmigen Kindern. Nach Beschwerden von Eltern mit Migrationshintergrund ordnete der Berliner Senat die Auflösung der separierten Klassen an.

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Hintergrund ist die Tatsache, dass in einigen Schulen der Anteil der Kinder mit Zuwanderungsgeschichte teilweise bei über 90 % liegt. Viele Eltern meiden diese Schulen und versuchen, ihre Kinder auf anderen Schulen unterzubringen.

Das Paradoxe an der Situation ist jedoch, dass die Motivation der Schulen für diese Maßnahmen nicht die soziale und ethnische Ent-, sondern vielmehr die Durchmischung ihrer Schulen ist. So werden diese Maßnahmen von Schulen vorgenommen, die eine Schülerschaft mit Migrationshintergrund von 70 % und mehr haben. Diese bemühen sich mit den eingangs genannten Modellen, ihre Schulen für deutschstämmige Eltern wieder attraktiver zu machen und den Anteil von Kindern ohne Migrationshintergrund perspektivisch zu erhöhen.

Auch wenn diese aktuellen Diskussionen anderes vermuten lassen, ist die Praxis der Separierung von Kindern mit Migrationshintergrund weder neu noch eine Ausnahmeerscheinung. So wurden bereits in den 1970er Jahren sogenannte Ausländer- oder Nationalklassen eingerichtet, wenn der Anteil der ausländischen Kinder in einem Jahrgang mehr als 20 % betrug. Die Diskussion darüber, wie hoch der Anteil von Migrantenkindern an Schulen und Klassen sein sollte, wird bis heute kontrovers geführt. Dabei sind zwei Motive zentral: Erstens eine ethnisch-kulturelle Durchmischung im Kontext von Inklusion und zweitens die Berücksichtigung der Qualität des Unterrichts in Zusammenhang mit dem Migrantenanteil. Der Ruf nach Separierung ensteht meist erst dann, wenn der Migrantenanteil steigt und die Vermutung aufkommt, dass damit ein Verlust von Unterrichtsqualität einhergeht.

Über das bundesweite Ausmaß einer Separierung auf Klassenebene ist statistisch wenig bekannt. Allerdings lassen sich über die Praxis der getrennten Klassen hinaus statistisch haltbare Anhaltspunkte für eine Segregation im Bildungssystem auf Schulformebene und Stadtteilebene finden. Zu nennen ist hier in erster Linie das drei- bzw. das viergliedrige (inkl. Förderschulen) deutsche Schulsystem. So ist seit den Anfängen der Einwanderung in Deutschland bekannt, dass Schüler mit Migrationshintergrund an Förder- und Hauptschulen konstant überrepräsentiert sind. Zudem war es – und ist es auch heute noch häufig – gängige Praxis, neu eingewanderte Kinder und Jugendliche automatisch auf eine Hauptschule zu schicken.

Neben der schulform- und klassenspezifischen Segregation sind insbesondere stadtteilspezifische Benachteiligungen von Bedeutung. Auf der Grundlage regionaler Bildungsberichte kann gezeigt werden, dass in Großstädten Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund in einzelnen Schulen stark konzentriert sind. So gibt es allein in Berlin 53 Grundschulen (von insgesamt ca. 400), die Klassen mit mehr als 70 % an Kindern mit Migrationshintergrund aufweisen. Für die ungleiche schulspezifische Verteilung in Großstädten ist vor allem die Segregation nach Stadtteilen verantwortlich. In fast allen deutschen Großstädten gibt es Stadtteile mit hohen Anteilen von Menschen mit Migrationshintergrund; diese Anteile spiegeln sich in den Schulen wider. Diese Ungleichverteilung zeigt sich auch in den Übergangsquoten auf die weiterführenden Schulen. So schwankt die Übergangsquote auf das Gymnasium, je nach Stadtteil und in Abhängigkeit vom Migrantenanteil, in Städten wie Essen oder Freiburg zwischen 20 % und 85 %.

Die Errichtung von Klassen, die gute Deutschkenntnisse zur Aufnahmebedingung machen, findet häufig positiven Widerhall bei Eltern, weil damit einhergehend eine Qualitätssteigerung der Schulbildung angenommen wird. Wenn aber die leistungsstarken Kinder bzw. Kinder mit guten Deutschkenntnissen in Sonderklassen beschult werden, kommen die leistungsschwachen Schüler im Umkehrschluss ebenfalls in Sonderklassen. Diese Separierung von leistungsschwachen Schülern stellt wiederum eine Diskriminierung dar, die das Recht auf inklusive Beschulung aller Schüler verletzt.

Hier setzt die Kritik der Open Society Justice Initiative an, die diesen Tatsachenbestand nun vom UN-Menschenrechtskomitee prüfen lassen will. Für die segregierende Praxis wurde das deutsche Schulsystem schon häufiger international kritisiert, so etwa von dem UN-Sondergesandten für das Recht auf Bildung Vernor Muñoz und dem UN-Sonderbeauftragten für Rassismus Githu Muiga.

Den alltäglichen Schwierigkeiten, mit denen sich Schulen konfrontiert sehen, kann jedoch nicht auf Klassen- oder Schulebene begegnet werden. Das mehrgliedrige deutsche Schulsystem, segregierte Stadtteile und zunehmende soziale Ungleichheiten bilden die Hintergrundstrukturen, die die Probleme an innerstädtischen Schulen verursachen. Die Abschaffung des mehrgliedrigen Schulsystems, eine Wohnungsmarkt- und Stadtpolitik, die die Entstehung von ghettoartigen Stadtteilen verhindern, sowie die Reduzierung sozialer Ungleichheiten wären wichtige Maßnahmen, um einer segregierten Beschulung entgegenzuwirken. Leitartikel Meinung

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  1. Jürgen sagt:

    „Diese Separierung von leistungsschwachen Schülern stellt wiederum eine Diskriminierung dar, die das Recht auf inklusive Beschulung aller Schüler verletzt.“

    Seit wann sind Nicht-Biodeutsche Subjekt des Rechts auf inklusive Beschulung? Da geht es doch nur um Menschen mit Behinderungen, oder hab ich was verpasst?

  2. Soli sagt:

    Es spricht doch auhc nichts dagegen dass sich die MIgranten „von sich aus“ besser in der Stadt verteilen? Ich meine – die wohnen doch oftmals genau deshalb räumlich eng zusammen damit sie ihre „Kultur und Sprache“ ausleben können und möglichst wenig Berührung mit der Deutschen Sprache benötigen.
    Wie soll eine „Wohnungs- und Stadpolitik“, die die entstehung von Ghettos verhindert“ denn im Detail ausschauen? Sobald jemand ankommt und sagt – hier dürfen jetzt keine Türken (Wedding) und hier keine Deutschen (Prenzlauer Berg) mehr zuziehen ist das doch auch schon wieder Diskriminerung und alle Schreien nach Rassismus….

    Übrigens finde ich es überhaupt sehr bedauerlich, dass es überhaupt „Deutschklassen, Deutsch-Garantieklassen“ geben muss. Es sollte von vorneherein klar sein, dass der Unterricht hier in der Amtssprache stattfindet.

  3. Sinan A. sagt:

    Der Text meint es nur scheinbar gut. Tatsächlich entwirft er ein schwarz-weiß Bild von den einen mit und den anderen ohne Migrationshintergrund. Der Wirklichkeit wird dieses Bild nicht gerecht. Die Kinder sind alle völlig verschieden. Der Migrationshintergrund ist nur ein Kriterium von vielen und sagt letzten Endes nichts aus. An der Schule unseres Sohnes liegt er weit über 50% und trotzdem wollen alle dahin. Vielen muss leider abgesagt werden. Und wir wohnen nicht im Villenviertel, sondern in einem ganz normalen, gemischten Viertel.

    Wenn jetzt da in Berlin ein paar Gentrifizierer auf Elite machen wollen. Lasst sie doch. Die Ausländer sollten sich lieber freuen, mit diesen Leuten und ihren unsympathischen Sprösslingen so wenig wie möglich zu tun zu haben. Die würden eh nur Ärger machen. Gebt denen ihre Spezialklasse und Ruhe ist. Gibt noch genug Deutsche, die wissen, dass die Zukunft ihres Kindes nicht vom Migrationshintergrund abhängt. Prenzlberg ist zum Glück nicht überall.

  4. Migrantin sagt:

    Der eigentliche Skandal ist die Gleichsetzung von Herkunft mit ‚leistungsschwach‘. Schliesslich geht es hier um Kinder, die gerade eingeschult werden und noch gar keine Chance hatten ihre Leistungsfaehigkeit unter Beweis zu stellen. Und bereits werden sie als Loser eingestuft. Und seit wann ist jeder, der Deutsch kann, leistungsstark?

  5. Wendy sagt:

    @Migrantin – das Problem sind nicht die Kinder sondern die Eltern. Die Kinder – denen ist eigentlich vollkommen egal in welcher Sprache sie sich unterhalten, sofern sie damit in ihrer kleinen welt zurecht kommen, sich mit ihren Freunden und der Familie unterhalten können.

    Zum Problem wird es dann erst wenn sie in die schule kommen und merken – dort kommen sie mit der von den Eltern vorgelebten und gelernten Sprache nicht mit. Das hat nichts mit verminderter Leistungsfähigkeit zu tun sondern einfach damit das sie aufgrunf des mangelnden Sprachverständnisses zwangsweise hinterherlaufen.

    Der Fehler liegt also, wie eingangs erwähnt, bei den Eltern denen es einfac „egal“ oder „zu schwierig“ ist ihnen die Sprache nahezulegen in dessen Land sie sich aufhalten und das sie als „Heimat“ erwählt haben. Die Kinder wachsen hier in Deutschland, in Hamburg, Köln und München auf. Nicht in Istanbul, Ankara oder dem Libanon.

  6. A. Degner sagt:

    „Wenn jetzt da in Berlin ein paar Gentrifizierer auf Elite machen wollen …“

    Das waren keine Gentrifizierer sondern ganz normale Menschen die gerne in ihrem multikulturellen Kiez (nämlich Kreuz- und nicht Prenzlauer Berg) leben und die Kinder gerade aus diesem Grund auch nicht in einem anderen Stadtteil einschulen wollten. Sie hatten nur keine Lust darauf das dort ein oder zwei Mädchen oder Jungen in den Pausen regelmäßig wie das fünfte Rad am Wagen in der Ecke stehe weil sie die einzigen sind die sich nicht auf Türkisch oder Arabisch unterhalten können.

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