Mauerzeit 1/3

„Pssst!“

Zeitzeugen-Erinnerungen aus 28 Jahren Mauerzeit. Dieses Buch erzählt, was Menschen alles taten, um die Mauer zu überwinden. MiGAZIN bringt anlässlich des 3. Oktober drei Kapitel aus dem Buch in voller Länge. Heute: "Pssst!"

Von Meinhard Schröder Freitag, 28.09.2012, 8:44 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 01.10.2012, 22:46 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

„Schön, daß ihr da seid!“ Unsere Freunde Ursel und Wolfgang nahmen uns aufgeregt in die Arme. Beide arbeiteten an der Landwirtschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität, waren in unserem Alter und hatten wie wir zwei Kinder, Jens und Katrin, neun und sieben Jahre alt. Die beiden standen hinter ihren Eltern und schielten nach den Geschenken im Korb. Wir hatten für die Kinder ein Micky-Maus-Heft, Überraschungseier, Smarties, Tintenpatronen, Tintenkiller und Bilder von Fußballern aus der Bundesliga mitgebracht. Es war für sie wie verspätete Weihnachten. Sie zogen sich mit den Gaben und mit ihren beiden Westfreunden ins Kinderzimmer zurück. Ich wußte, sie würden wieder mit Legosteinen bauen.

Zwei- bis viermal im Jahr besuchten Brigitte und ich unsere Freunde in Ost-Berlin, genauer, im Salvador-Allende-Viertel, einer Plattenbausiedlung in Köpenick. Auch Ursel und Wolfgang packten jetzt unsere Mitbringsel aus: das Buch „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque, einen Kalender und eine Strandjacke, den Korb mit Obst und die Süßigkeiten, Kaffee und Seife.

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„Oh! Die Seife duftet nach Flieder! Und das im Winter!“

Wolfgang öffnete die Kaffeetüte und schnupperte. „Der hat ja ein tolles Aroma. Ich gieße zur Feier des Tages gleich mal ein paar Tassen auf.“

Aber Schokolade und Konfekt brachen sie nicht an.

Natürlich wollten auch Ursel und Wolfgang sich nicht lumpen lassen. Es war für sie eine Frage der Ehre, uns ebenfalls eine Freude zu bereiten, was ihnen bei dem beschränkten Angebot des DDR-Einzelhandels nicht leichtfiel. Immer wenn sie etwas Interessantes ergattern konnten, machten sie ein Geschenk für uns daraus. So nahmen wir grusinischen Tee, Vanillestangen, Maler-Deckweiß, Blumen- und Gemüsesamen aus Erfurt, eine Mundharmonika, Papp-Ostereier, Schallplatten mit klassischer Musik, Briefpapier, ein kleines Schaukelpferd und Pfeil und Bogen als Gegengeschenke mit in den Westen. Die äußerst billigen Schrauben ärgerten mich hinterher, weil der Schlitz zu flach war und der Schraubendreher abrutschte – ich mußte alle wegwerfen. Hingegen erwies sich der Schlitten als äußerst haltbar und stabil. Seine seitlichen Holme waren vorne im Bogen hochgezogen und boten so Schutz beim Zusammenstoß.

„Ach, es schmeckt und riecht einfach so gut, was ihr aus dem Westen mitbringt“, seufzte Ursel.

Ich wußte, daß wir mit unseren Geschenken den Zwiespalt vertieften, in dem sich besonders Ursel als Mitglied der SED befand. Als FDJ-Funktionärin war sie auch für die politische Erziehung von Studenten verantwortlich und mußte ihnen gegenüber die Überlegenheit des Sozialismus vertreten. Gleichzeitig erlag sie selbst den Gerüchen des „goldenen Westens“.

Am Abend luden uns Ursel und Wolfgang in den „Palast der Republik“ zum Essen ein. Wir mußten eine Weile in der Schlange vor dem Restaurant warten, bis wir von einem Kellner „platziert“ wurden. Wolfgang erzählte von seiner Bewerbung auf eine Professorenstelle: „Man sagte mir klipp und klar: ‚Von Ihnen als zukünftigem herausragenden Kader unseres Staates erwarten wir natürlich, daß Sie Ihre Kontakte in das Gebiet des Klassenfeindes abbrechen.’“

„Und?“ Mir wurde bange – sollten wir uns in Zukunft nicht mehr treffen?

„Meinst du, ich will meine Verwandten in Lübeck und Euch nicht mehr sehen? Nein, das kam für mich nicht in Frage. Aus der Professur wird also nichts.“

„Du hast auch unseretwegen auf die Professur verzichtet?“, fragte ich ihn bestürzt.

Er sah mich betrübt an und lächelte: „Was wäre das für ein Leben! Ich hätte mir ständig Vorwürfe gemacht.“

Ursel wollte offensichtlich das Thema wechseln, sie nahm noch einen Löffel von ihrer Soljanka, dann platzte es förmlich aus ihr heraus: „Wißt ihr schon, daß der ,Sputnik’ verboten ist?“

Ab Ende 1989 konnte man den „Sputnik“ in der DDR wieder am Zeitungskiosk kaufen. Aus diesem Anlaß erschien eine Sonderausgabe mit den interessantesten Artikeln aus den Heften 10/88 bis 10/89.

Ab Ende 1989 konnte man den „Sputnik“ in der DDR wieder am Zeitungskiosk
kaufen. Aus diesem Anlaß erschien eine Sonderausgabe mit den
interessantesten Artikeln aus den Heften 10/88 bis 10/89.

„Sputnik? Das war doch der erste sowjetische Satellit, oder?“, fragte Brigitte nach.

Ursel lachte. „Dieser Sputnik kommt zwar auch aus der Sowjetunion, aber er ist eine Zeitschrift mit interessanten Beiträgen. Und der ist jetzt verboten! Seit Gorbatschows Perestroika wird im ,Sputnik’ offen über Missstände 1 geschrieben. Wie hieß es doch immer? Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen! Und jetzt verbieten unsere Oberen Informationen aus dem Land des großen Bruders! Wie schlimm muß es um uns stehen, wenn wir nicht erfahren dürfen, was im Mutterland der Revolution vor sich geht!“

Sie lachte wieder, aber diesmal bitter, und schüttelte ungläubig den Kopf. Ihre kurzen Haare lagen nicht mehr brav in Fasson, sondern stellten sich quer – ich erkannte den Ansatz zu einem Struwwelpeter. Ursel war noch nicht fertig, es schien, daß sie sich viel von der Seele reden mußte: „Und hier? Wenn du Qualität haben willst, kriegst du das nur in den Intershop-Läden. Und zwar gegen Westmark. Selbst gute eigene Waren, die gegen Devisen an den Westen verscherbelt werden, können wir nur im Exquisit-Geschäft zu horrenden Preisen kaufen.“

Sie redete sich richtig in Rage.

Plötzlich sagte Wolfgang halblaut: „Pssst!“ und deutete mit einem leichten Kopfnicken zum Nachbartisch. Brigitte und ich wußten, daß er am Nachbartisch einen Stasi-Spitzel vermutete. Vielleicht hatte jemand die Ohren gespitzt, und deshalb mahnte uns Wolfgang zur Vorsicht. „Pst!“ – Ich kannte diese gedämpfte Ermahnung, leiser zu sprechen, damit kein unbefugtes Ohr mitbekam, worüber man sprach. Überall in der DDR lauerten große Ohren. Und man hatte Angst. Die einen mehr, die anderen weniger.

„Na und?“, polterte Ursel.

Ich erschrak. Sie war noch drei Tische weiter wörtlich zu verstehen. Genau so laut wie eben fuhr Ursel fort: „Sollen sie’s doch hören! Sollen sie alles aufschreiben! Damit sie endlich wissen, was die Menschen denken!“

So kannte ich Ursel nicht. Ein Riß hatte sich aufgetan – ein neuer Mut war geboren.

  1. Das Magazin „Sputnik“, in dem allmonatlich eine Auswahl sowjetischer Publikationen veröffentlicht wurde, hatte über Jahre an den DDR-Zeitungskiosken ein eher bescheidenes Dasein geführt, bis plötzlich während der Zeit der Perestroika hier Artikel erschienen, die den Ostdeutschen den Atem stocken ließen. Historische Wahrheiten, im letzten Heft über den Hitler-Stalin-Pakt, waren auf einmal schwarz auf weiß darin zu lesen, die keine DDR-Zeitung je gedruckt hätte. Nun waren die Abonnements ausgebucht, das Magazin allmonatlich sofort nach Erscheinen ausverkauft. Dann kam im November 1988 das Aus: Denn Glasnost, also Offenheit, herrschte nur in der Sowjetunion, nicht aber in der DDR.
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