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Migrationshintergrund ist kein Vordergrund

Es ist nicht einfach, einer 6-Jährigen zu erklären, warum man nach Herkunft nicht differenzieren sollte. Es ist nicht einfach zu erklären, warum die Herkunft hierzulande seltsam behandelt wird – sie wird überbewertet und gleichzeitig minderwertisiert.

Von Donnerstag, 14.07.2011, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 19.07.2011, 0:46 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Sie ist bestimmt Türkin, sagt mir meine Tochter neulich unterwegs von der Schule. Ihre Aussage macht mich stutzig, es klingt mir fremd. Ich ordne gleich ein – das muss sie wohl von jemandem gehört haben, solche Differenzierungen kennt sie von uns jedenfalls nicht.

Ja, es könnte sein, dass das Mädchen aus der Türkei kommt. Wie kommst du darauf?, werde ich neugierig.

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Mama, guck, wie sie aussieht, komisch …

Ich sehe eine blonde Schülerin mit ausgefallener breiter Hose, supermodisch und originell für meinen Geschmack, sieht echt gut aus. Aha. Ich muss kurz durchatmen. Denn mir wird gerade die Wichtigkeit des Momentes bewusst. Ich habe die Ehre, Vorurteile abzubauen.

Die Tatsache, dass so etwas gedacht, ausgesprochen und in der Erwachsenenwelt reproduziert wird, ist mir bekannt. Dass es es so leichtsinnig in die Kinderwelt übertragen wird, macht mich traurig. Die Oberflächlichkeit der Differenzierung. Andererseits bin ich froh, das von meinem Kind mitzubekommen, was in seinem Umfeld passiert, und erklären zu können. Andere Sichtweise zu bieten, Denkanstöße zu geben, anders differenzieren, tiefsinnig nachschauen zu lehren, eben dem Oberflächlichen und Sinnlosen entgegenzusteuern.

Es geht mir nicht nur um das „komisch“ und nicht nur um die „Türkin“,- beides kann man ja ruhig sein. Es ist die Kombination, die mir am meisten nicht gefällt. Aber auch die Differenzierung nach Herkunft. Ich muss zugeben, es ist nicht einfach, einer 6-Jährigen zu erklären, warum man nach Herkunft nicht differenzieren sollte, wobei unsere Herkunft auch das ist, was uns ausmacht. Es ist ein wichtiger Teil von uns, warum sollte man das auch nicht nennen sollen. Es ist nicht einfach zu erklären, warum die Herkunft hierzulande seltsam behandelt wird – sie wird überbewertet und gleichzeitig minderwertisiert.

Ich erkläre meiner Tochter, dass das Adjektiv „komisch“ nichts mit der Herkunft eines Menschen zu tun hat. Wir erinnern uns an unseren Aufenthalt in der Türkei, und daran, wie schön es dort war, was für nette Menschen wir dort kennengelernt haben. Und dass wir eigentlich keinen gesehen haben, der oder die komisch aussah. In der Türkei nicht, in Griechenland, Italien, Österreich und anderen Ländern eigentlich auch nicht. Gut ist, der sich gut benimmt und schön ist, der sich schön benimmt. Es kommt nicht darauf an, wo der Mensch herkommt, sondern eher wie er ist. Und komisch können die Menschen auch sein, anders als wir uns vorstellen oder als es uns gefällt. Die Kunst besteht aber darin, das Positive an dem Menschen zu sehen und das zu erkennen, und die Stärke eben darin, es benennen zu können. Die meisten Menschen sehen schon zuerst das Gute in Anderen, sagen aber meist zuerst das schlechte. Und wo man her kommt kann nie komisch sein, sondern nur schön. Das einzig komische hier ist nur, dass manche Menschen diese Eigenschaft mit der Herkunft in Verbindung bringen.

Das war nur eine Passage aus der Welt der Erwachsenen. The real life, sozusagen. Die Welt, in der wir leben, und wie wir sie für unsere Kinder mitgeben. Und, eine Erklärung für eine sechsjährige. Es passiert leider viel zu oft, dass so ein Grundschulniveau-Wissen den Erwachsenen fehlt. Von so etwas hat ein um sich herum über Ausländer schimpfender Mann mit der Bierflasche in der Hand am Kotti sicherlich nie gehört. Dass er sich zum Thema nicht ganz klar formulieren kann, kann ich ja verstehen, er hat ja ganz andere Sorgen.

Aber was ist mit den Eltern, die die Mitschüler ihrer Kinder in Deutsche und Türken einteilen, oder den Lehrern, die Mehmet oder Belgin so lange nach der Herkunft fragen, bis ihnen die Puste ausgeht und die Antworten „aus Berlin“ und „aus Deutschland“ partout nicht akzeptieren, und sich erst dann beruhigen, wenn sie irgendein anderes Land zu hören bekommen? Tobias, Thomas oder Lisa dürften kaum eine halbe Stunde lang nach dem Bundesland, Stadt oder Dorf ausgefragt werden, aus der die Eltern kommen. Der Kotti-Mann hat keine Bildung. Die anderen dagegen haben eine. Trotz verschiedenen Bildungsniveaus sind ihre Gedanken auf derselben Ebene – ein misslungenes Produkt einer misslungenen Integrationspolitik.

Versuch, diskriminierende Gedanken bei den Kindern abzubauen, solche an die nächste Generation nicht weiter zu geben, ist was Großes. Das ist ein kleiner Einsatz für ein großes Stück bessere Welt. Kinder, die damit aufwachsen, einen Menschen als solchen wahrnehmen zu können, ihn anhand seiner Eigenschaften statt seines Aussehens, seiner Haar- und Hautfarbe, religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit differenzieren zu können werden zu Erwachsenen, die die Ressourcen des anderen sehen und davon profitieren können. Denn die Vielfalt bereichert und das Sich-davor-verschließen eben nicht.

Ich wünsche mir eine Generation, die ihre Gespräche mit anders aussehenden Menschen statt „wo kommen sie her“ mit „wie geht’s ihnen“ anfängt. Generation, die nicht mehr darüber diskutieren muss, wer eigentlich dazugehört und wer nicht, Generation, der es von vornherein klar ist, dass dazugehört, der da ist. Eine Generation, für die es selbstverständlich ist, Menschen nicht mit bestimmten Gruppen gleichzusetzen, so eine, die nicht von dem ersten Blick urteilt, sondern in der Lage ist, tiefer schauen zu können. Die die Augenhöhe kennt und nicht von oben herab blicken muss, nur weil man es ihr so beigebracht hat. Und für diejenigen, die an dieser Stelle auf den Namen über den Artikel schauen, ob es nicht ein Ausländer ist, der/die sich das alles zu wünschen wagt, hebe ich den darauffolgenden Satz ganz besonders hervor. Ich wünsche mir das nicht für irgendwo anders. Ich wünsche mir das für hier, für das Land, in dem ich lebe. Ausländischer Name ist ein Teil von mir, genauso wie Deutschland ein Teil von mir geworden ist. Für die Politik- und Medienmacher ist es ein Migrationshintergrund. Für mich ist es meine einzigartige Geschichte.

Der Migrationshintergrund ist kein Vordergrund, liebe Erwachsenen. Und damit meine ich nicht die Erwachsenen ohne Migrationshintergrund, sondern eher die ohne jeglichen Hintergrund. Nach Äußerlichkeiten zu differenzieren ist oberflächlich, einen Menschen seiner Herkunft gleich zu setzten ist einseitig, ihn daran zu messen ist diskriminierend und das als Abweichung von der vermeintlichen Norm darzustellen ist rassistisch. Und das an die Kinder weiterzugeben – alles andere als bereichernd.

PS: Ich dachte, der Artikel wäre zu Ende, aber noch eins kann ich Ihnen nicht vorenthalten. Heute kam mein Kind mit noch einer Geschichte nach Hause: Beim Zähneputzen in der Schule ist einem Mädchen schlecht geworden. Ein anderer Mitschüler erklärte meiner Tochter, es sei so passiert, weil sie Türkin ist. Bei denen wäre es so. Sie wären nämlich irgendwie anders …

Dazu ist mir erst mal nicht wirklich viel eingefallen. Aktuell Meinung

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  1. ma_r_tin sagt:

    Dein Kind wird dir auf Dauer nicht glauben. Es wird sich heimlich Freunde suchen, damit du sie nicht moralisch abwertest. Spätestens wenn es in die gewisse Phase kommt, wirst du das Gefühl haben, die ganze Kinderzeit nicht mit deinem Kind, sondern mit einer Wand gesprochen zu haben. Der Wand mit dem Bild, wo drauf steht „Wir haben uns alle lieb.“ Warum sollte sich dein Kind dann noch mit dir unterhalten? Die Wunschvorstellung der Mutti und die Wirklichkeit auf der Strasse ist völlig anders.
    Offensichtlich gibt es eine Wirklichkeit, die jenseits ist, von dem was wir gut finden. Wir müssen mit der Wirklichkeit umgehen und nicht die Daumen drücken, die Augen schließen und hoffen, dass nichts passiert.
    Das ist ein Artikel, der Wegschau-Ideologie.
    Ich sag das nur, damit du dich nicht wunderst, wie das alles passieren konnte, was passieren wird.