Leos Wochenrückblick

Erdogans Sieg – kommentiert in SZ, FAZ, taz, WELT und Guardian

Die Dimension des Sieges. Verfassung und Präsidentschaft. Kooperation mit der Opposition. Kurdenfrage. Droht Islamisierung? Europa. Syrien. Weitere Aufgaben. Die Wirtschaft.

Von Leo Brux Dienstag, 14.06.2011, 8:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 13.01.2016, 11:07 Uhr Lesedauer: 10 Minuten  |  

Der Sieg
Kai Strittmatter stellt in der Süddeutschen Zeitung die Dimension des Sieges heraus:

Tayyip Erdogan hat wieder einmal einen Rekord gebrochen. Drei Mal hintereinander die absolute Mehrheit im Parlament zu gewinnen, und dabei jedes Mal den Stimmenanteil noch zu steigern – das hat seit Abschaffung des Einparteienstaates vor mehr als 60 Jahren noch kein türkischer Premier geschafft.

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Es ist ein Triumph für den Mann, der sich so gern als Volkstribun inszeniert, für den Premier, der sein Land so umgekrempelt hat wie kaum ein anderer seit Republikgründer Atatürk.

Das Paradoxe dabei: Es ist ein Triumph, der Erdogan gleichzeitig die Flügel stutzt. Die Türken haben ihm die Zweidrittel-Mehrheit versagt, die er sich erhoffte. Jene Mehrheit, mit der seine AKP im Alleingang eine neue Verfassung hätte verabschieden können, mit der Erdogan sich ein Präsidialsystem auf den Leib hätte schneidern können. Angesichts seiner zunehmenden Selbstherrlichkeit ist das ein Segen.

In diesem Punkt sind sich die Kommentatoren einig.

Die Präsidentschaft
Die Türkei muss dringend ihre halbautoritäre, 1982 von den Generälen diktierte Verfassung durch eine neue ersetzen. Constanze Letsch stellt im Guardian fest, Erdogan gehe es dabei vor allem um seine künftige Präsidentschaft und unterstellt ihm die Absicht, die Türkei „putinisieren“ zu wollen.

„Erdogan wants to implement a presidential system,“ Gencer Ozcan, professor for international relations at Bilgi University told the Guardian. „This is the main goal of a new constitution. This is the first time that the prime minister handpicked all AKP candidates, assuring absolute loyalty within his own party.“ But the election result requires wider parliamentary consensus on a new constitution.

This comes as good news to government critics who, concerned about Erdogan’s increasingly authoritarian stance, accused him of wanting to „Putinise“ the country in an effort to remain in charge beyond 2015, when he would be barred from serving as prime minister again.

Das wird er nicht schaffen, meint auch Jürgen Gottschlich in der taz:

Tayyip Erdogan, der mächtigste Ministerpräsident, den die Türkei je hatte, hat es nicht geschafft, bei der Wahl am Sonntag eine verfassungsändernde Mehrheit für seine Partei einzufahren. Er hat zwar zum dritten Mal hintereinander gewonnen und nahezu jede zweite Wählerstimme für sich verbuchen können, doch sein angestrebter Durchmarsch zu einem Diktator auf Zeit ist gestoppt.

Der heute 57-jährige Erdogan wollte zur Krönung seiner Laufbahn sich zum Präsidenten wählen lassen – vorausgesetzt, er kann das heute eher repräsentative Präsidentenamt per Verfassungsänderung zur Machtzentrale nach französischem Vorbild umbauen. Daraus wird nun nichts und Erdogan muss sich überlegen, was er nun mit seiner Macht anfängt.

Boris Kalnocky in der WELT warnt jedoch:

Er will eine neue Verfassung schreiben; technisch fehlen fünf Stimmen im neuen Parlament, um ein Verfassungsreferendum anzusetzen. Das ist in der real existierenden türkischen Politik locker machbar.

Das würde ich auch so sehen … Erdogan hat im Macht- und Verhandlungsspiel gute Karten, um die Verfassung ungefähr so geraten zu lassen, wie er sie haben möchte.

Versöhnliche Töne, das Kooperationsangebot:
Die Süddeutsche berichtet:

Erdogan will nun für die geplante neue Verfassung die Unterstützung aller politischen Kräfte zu suchen. Er kündigte an, ausführliche Verhandlungen mit anderen Parteien und der Gesellschaft zu führen. „Heute Abend hat uns die Nation nicht nur den Auftrag zur Regierung gegeben. Sie hat uns auch beauftragt, die neue Verfassung auszuarbeiten. Die Botschaft ist, dass wir dies zusammen mit den anderen Kräften machen sollen“, sagte er. „Wir werden auch die Parteien anhören, die nicht im Parlament vertreten sind. Wir werden die umfangreichsten Verhandlungen führen“, sagte er. „Jeder wird Bürger erster Klasse sein.“

Mit wem kann Erdogan dabei zusammenarbeiten? Michael Mertens beantwortet diese Frage in der FAZ:

Je nachdem, zu welchen Allianzen es kommt, könnte die Verfassungsdiskussion, sollte sie überhaupt in Gang kommen, zu unterschiedlichen, gar zu gegensätzlichen Ergebnisse führen. Der MHP-Vorsitzende Devlet Bahceli, der sich unter anderem gegen die Verwendung der kurdischen Sprache im Bildungswesen und gegen die Neufassung des diskriminierenden Staatsbürgerbegriffes ausgesprochen hat, markiert das eine Ende der türkischen Fahnenstange. Die Kurdenpartei BDP, die just das Gegenteil fordert, das andere. Ob sich gemeinsame Interessen ergeben, weiß derzeit niemand zu sagen.

Unter welchen Bedingungen die moderat erstarkte „Republikanische Volkspartei“ (CHP) von Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu bei der Ausarbeitung einer neuen Verfassung mit Erdogan zusammenarbeiten könnte, ist ebenfalls nicht absehbar. Kilicdaroglu hat zwar kein überragendes, aber doch ein beachtliches Ergebnis für seine Partei erzielt und die AKP wissen lassen, dass sie es fortan mit einer ernsthaften Opposition zu tun haben werde – mit einer Opposition, die den Machtwechsel anstrebt: „Wir haben vier Jahre vor uns. Wir werden die Regierungspartei werden. Dieses Ziel werden wir nicht aufgeben“, kündigte Kilicdaroglu an.

Die Kurdenfrage
Gottschlich (in der taz) könnte sich vorstellen, dass Erdogan am Ende überhaupt darauf verzichten wird, eine neue Verfassung durchzubringen:

Ob er angesichts der neuen Zusammensetzung des Parlaments noch die nötige Leidenschaft für eine neue Verfassung aufbringt, dürfte zweifelhaft sein. Es bleibt aber eine Mission, die ihn tatsächlich zu einer Art neuer Gründervater einer modernen Türkei machen würde: die Lösung des Konflikts mit der kurdischen Minderheit.

Nichts hat der Türkei und den Menschen in der Türkei mehr geschadet als der blutige Krieg zwischen der Armee und den kurdischen Nationalisten. Erdogan hätte die Macht, diesen Krieg durch einen echten Kompromiss zu beenden. Damit hätte er auch einen Platz in der Geschichte.

Michael Thumann hält  in seinem ZEIT-Kommentar die Lösung des Kurdenproblems gerade jetzt für durchaus möglich:

Das Verhältnis von Kurden und Türken muss dringend auf eine neue Ebene gestellt werden, bevor der Graben zu tief wird. Die Kurden sollten in ihren Regionen mehr über eigene Belange entscheiden können, der militante Nationalismus der PKK sollte durch Amnestien und Ende aller Militäroperationen entschärft werden.

Die Chance der Türkei ist nun, dass ein populärer, vom Volk gestärkter Erdoğan mit einer selbstbewussten Opposition verhandeln könnte. Die nationalsäkulare CHP hätte Gelegenheit zu beweisen, wie ernst es ihr mit ihren demokratisch und kurdenfreundlich klingenden Wahlkampfprogrammen ist. Die kurdische BDP muss zeigen, ob sie bei aller persönlichen Abneigung doch mit Erdoğan einen Deal machen kann. Tayyip Erdoğan sollte endlich Farbe bekennen, ob er mit der BDP ins Geschäft kommen kann. Vor allem AKP und die gestärkte kurdische BDP wären von ihrem ideologischen Profil her geeignet, in Fragen der kulturellen Rechte der Kurden, beim Justizsystem, bei der Dezentralisierung und für eine Entpolitisierung der Armee zusammenzuarbeiten.

Droht Islamisierung?
Auch in diesem Punkt sind sich die Kommentatoren fast einig. Ich zitiere wiederum Strittmatter in der Süddeutschen:

Die Türken sind Pragmatiker bis ins Mark. Sie haben Erdogan diesen Sieg geschenkt, nicht weil er ein frommer Muslim ist, sondern schlicht, weil er ihnen ein besseres Leben geschenkt hat: Mehr als acht Prozent Wachstum im letzten Jahr – nur China wuchs schneller. Und freier wurde die Türkei dazu.

Anders als noch vor vier Jahren spielten ideologische Grabenkämpfe nur mehr eine untergeordnete Rolle: Erdogan will die Türkei in einen Gottesstaat verwandeln? Den Vorwurf, der in manchen Zirkeln in Europa nicht totzukriegen ist, haben Erdogans türkische Gegner längst still und heimlich zu Grabe getragen: Es nimmt ihnen schon lange keiner mehr ab.

Europa
Boris Kalnocky (WELT) ist allerdings aufgefallen, dass Erdogans Siegesrede nicht von der EU handelt. Das schürt sein Misstrauen:

Doch der EU-Beitritt und eine entsprechende volle Demokratisierung – Abschaffung der Zehn-Prozent-Hürde, ein demokratischeres Parteiengesetz, volle Minderheitenrechte, Gleichberechtigung für Frauen – all das war nicht das Thema von Erdogans Siegesrede am Wahlabend. Sein Sieg sei auch ein Sieg für Gaza, für Jerusalem, für Sarajevo, rief er stattdessen – und er zählte alle muslimischen Hauptstädte und Regionen des früheren osmanischen Reiches auf.

Die nächsten Jahre werden zeigen, was Erdogan unter Zukunft versteht: Modernistische Neo-Islamisierung und Neo-Osmanismus oder EU-Beitritt. Seine Strategie, wie sie in den Büchern seines Außenministers Davutoglu beschrieben ist, deutet eher auf das Ziel, eine modernisierte Türkei zum Bannerträger der islamischen Welt zu machen, und dann weiter zu sehen.

Wenn das so ist – was folgt daraus für unsere EU-Politik gegenüber der Türkei? Läge es dann nicht nahe, die EU-Option für die Türkei wieder glaubwürdig zu machen? Wäre es nicht gerade die Ablehnung, die die Türkei aus Europa erfährt, die es zur Abkehr vom Westen zwingt?

Die Türken schauen – auch wenn sie auf Europa sauer sind – dennoch nach Europa, wenn sie ihre Zukunft ins Auge fassen. Die Modernisierung der Türkei und ihr wirtschaftlicher Aufstieg bedeuten eine weitere Verwestlichung der Kultur und der Politik des Landes. Nur als im Westen verankertes Land könnte die Türkei zum Bannerträger der islamischen Welt werden.

Die Notwendigkeit der Westorientierung zeigt sich auch beim gerade aktuellsten außenpolitischen Problem:

Syrien
Die Situation im Nachbarland Syrien spitzt gerade sich zu. Was wird die Türkei tun? Bisher waren die Beziehungen zum Regime Asads freundschaftlich. Das scheint sich jetzt zu ändern, folgt man dem Hinweis von Constanze Letsch im Guardian:

… Turkey’s „zero-problem“ foreign policy is being challenged by regional uprisings such as that in neighbouring Syria, long an ally of AKP-ruled Turkey.

Journalist Oral Çalislar told the Guardian: „Prime minister Erdogan has already indicated that after the elections, the honeymoon with Syria will be over. Turkey will take a much harder stance, and side with the EU to solve the Syrian problem.“ The handling of Turkey’s large Kurdish minority will also be a key issue.

Weitere Aufgaben warten auf Erdogan:
Thumann in der ZEIT zählt sie auf:

Das Verhältnis von Hauptstadt und Provinzen muss neu geregelt werden: durch starke Provinzverwaltungen, Neuverteilung des Geldes, Bürgermeisterwahlen mit Bedeutung. Das politisierte, ineffiziente Justizsystem muss generalrenoviert werden, angefangen bei der Juristenausbildung, fortgesetzt bei der Verschlankung der Instanzen und Entscheidungsprozesse und noch nicht endend bei der Vereinfachung und Klarstellung schlecht geschriebener und widersprüchlicher Gesetze.

Die Wirtschaft
der Türkei hat positiv auf das Ergebnis reagiert. Rainer Hermann berichtet in der FAZ von der Istanbuler Börse:

Der Industriellenverband Tüsiad erwartet von der bestätigten Regierung der AKP, dass sie die gesamtwirtschaftliche Stabilität und das Vertrauen in ein nachhaltiges Wachstum weiter stärke. Der Spitzenverband der Industrie ruft zudem das neue Parlament und die neue Regierung auf, die Messlatte für die Demokratie höher zu legen, eine neue Verfassung auszuarbeiten und den Prozess fortzusetzen, der in der EU-Mitgliedschaft münden solle. …

An der Istanbuler Börse sorgte die positive inländische Stimmung am Montag zunächst für einen Anstieg des Indexes, der aufgrund negativer Einflüsse aus Asien teilweise wieder zunichte gemacht wurde. Die türkische Wirtschaft war 2010 um 8,9 Prozent gewachsen und im ersten Quartal 2011 um 10 Prozent.

Der Chefökonom der Yapi Kredi Bankasi, Cevdet Akcay, führt den Sieg der AKP auf die gute wirtschaftliche Entwicklung zurück. Die Lage der Wirtschaft und des Arbeitsmarkts seien das wichtigste Motiv gewesen, eine Partei zu wählen, die auf anderen Gebieten Ermüdungserscheinungen zeige. Auch er rechnet damit, dass die AKP nun die erste zivile Verfassung in der Geschichte der Türkei ausarbeiten werde.

Etwas vermisse ich in den Kommentaren. Nur der Guardian spricht es einmal kurz an. Die Wirtschaftsfachleute rechnen mit einer ökonomischen Krise in der Türkei. Man wird sehen, ob sie kommt, wie tief sie werden wird und wie Erdogan die für ihn dann neue Situation meistern wird. Aktuell Meinung

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  1. Optimist sagt:

    @ Leo Brux

    Ich stehe inhaltlich voll hinter Ihrer Meinung und damit bin ich sicherlich nicht der Einzige. Lassen Sie sich von den unwissenden oder verblendeten Idioten nicht provozieren. Schön zu lesen, daß es noch menschliche Deutsche gibt, die ihren eigenen Verstand benutzen und nicht allein von den einseitigen deutschen Medien ferngesteuert sind.