Geburts- und Todesanzeigen

Wir begleiten uns schon lange

Ich las in der FAZ eine Todesanzeige. Ein junger Mensch war gestorben. Ich kann mir nur annähernd vorstellen, wie groß der Schmerz seiner Familie sein muss. Der Schmerz der Menschen, die ihn lieben und auch der Schmerz seiner Frau.

Von Meltem Kulacatan Mittwoch, 18.05.2011, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 20.05.2011, 2:10 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Ich saß im Zug, als ich die Anzeige las, und sprach mein Beileid still seiner Familie gegenüber aus. Die Namen der Freunde ließen mich innehalten. Es waren viele. Es sind Menschen mit deutschen, spanischen, türkischen und osteuropäischen Namen. Es sind Paare mit osteuropäisch-deutschen, mit türkisch-deutschen, mit deutsch-deutschen Namen. Sie sind in ihren Gedanken und Gefühlen bei ihrem verstorbenen Freund.

Es sind Menschen aus unserer pluralistischen, multikulturellen Gesellschaft. Es sind Menschen aus meiner Generation, die in den 1970er Jahren geboren wurden, nachdem unsere Eltern nach Deutschland kamen.

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Das letzte Jahr war medial geprägt durch die Debatten um das Buch von Thilo Sarrazin und seine menschenverachtenden rassistischen Äußerungen. Sein Buch entwickelte sich zum Bestseller in Deutschland. Man kann über diese Tatsache hinwegsehen. Man kann sich darüber ärgern oder sie auch ignorieren. Persönlich stimmt sie mich jedoch besorgt. Furcht wiederum ist ein schlechter Begleiter. Sie verunsichert, sie lässt verstummen und unsere Hoffnungen sowie unser Mitgefühl und unsere Neugier aufeinander in unseren Begegnungen verkümmern. Sie führt zur Abkapselung und im schlimmsten Fall zur Feindseligkeit.

Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte letztes Jahr im Zusammenhang mit Sarrazins Publikation „Multikulti für gescheitert.“ Zwar grenzte sie sich von seinen biologistischen Argumentationen ab und kritisierte ihn. Dennoch goss sie Öl ins Feuer der ohnehin schon angespannten Atmosphäre. Der Begriff „Multikulti“ scheint zu einer Art Stellvertreter für ein gescheitertes gesellschaftliches Konzept zu sein, in dem sich die Minderheiten den Werte- und Anpassungsvorstellungen der Mehrheit entzogen haben und ihre eigenen sogenannten Parallelgesellschaften gründen. Tatsächlich leben wir aber in einer multikulturellen und pluralistischen Gesellschaft. Der Pluralismus in unserer Gesellschaft wird sich mit all seinen eigenen kulturellen Facetten weiter fortsetzen und entwickeln.

Ex-Bischöfin Margot Käßmann sagte während ihrer Rede in der Theologischen Fakultät an der Universität in Bochum, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und deshalb multikulturell. Multikulti in Deutschland sei nicht gescheitert, so Käßmann.

Der Publizist und Verleger der Wochenzeitung „Der Freitag“ Jakob Augstein wiederum, schrieb auf Spiegel-Online über den Vergleich zwischen einem Bestseller in Frankreich und Thilo Sarrazins Bestseller in Deutschland. Jakob Augstein zitiert sowohl Stéphane Hessel als auch Passagen aus dem Buch von Thilo Sarrazin. Der französische Autor Stéphane Hessel, ein Überlebender des Holocaust, appelliert Augstein zufolge an die Gerechtigkeit und die Umsicht in der französischen Gesellschaft. An Menschen, die sich für die Interessen der Allgemeinheit einsetzt. Weil seines Erachtens Stolz im Leben der Nationen wichtig sei. Augstein fragt sich, weshalb sich in Deutschland ein Buch, das aus Niedertrachten besteht zu einem Bestseller entwickeln kann und in Frankreich wiederum ein schmales Büchlein, das zu Mut, zu Engagement und zu Solidarität aufruft? „Wenn Hessel sich um Frankreichs Zukunft sorgt, geht es um Gerechtigkeit. Sarrazins Sorge um die Zukunft in Deutschland dreht sich um Geld und Gene.“

Margot Käßmanns Benennungen und Beschreibungen der Alltagsrealität in Deutschland und auch die Bedrückung, die Jakob Augstein zum Ausdruck bringt, stimmen mich hoffnungsfroher und auch milder mit Rückblick auf das vergangen mediale Jahr. Denn unsere Lebensrealität findet fernab der aufwiegelnden und düsteren Szenarien statt. Fernab von Thilo Sarrazin, seinen Befürwortern aus der Politik und seine Gönner aus der Gesellschaft.

Nein, wir sind nicht Teil einer Parallelgesellschaft. Mitnichten. Vielleicht sind es die betroffenen Politiker und auch die Thilo Sarrazins sehr viel mehr als sie selbst ahnen. Vielleicht leben sie in einer Parallelgesellschaft, mit der wir wiederum nichts zu tun haben, die nicht unseren Lebensvorstellungen und unserem Alltag entspricht. Denn wir begleiten uns bereits seit sehr langer Zeit: Wir begleiten uns bei den Geburten unserer Kinder, unseren Hochzeiten und auch während des Verlustes eines geliebten Menschen. Wir leben zusammen in unserem Alltag, in dem wir gemeinsam Feste feiern und auch unsere Sorgen teilen. Unsere Beziehungen beginnen zum Teil bereits im Kindergarten, in der Nachbarschaft. Sie setzen sich in der Schule fort und nehmen in der Ausbildung, im Studium und im Beruf neue Formen an mit neuen Menschen.

Unsere Realität ist die, dass wir mehrere Sprachen neben unserer Muttersprache sprechen. Unsere Alltagsrealität besteht aus Beziehungen zu Menschen, die selbst neben ihrer Muttersprache weitere Sprachen sprechen. Unsere Alltagsrealität besteht aus dem Überschreiten von realen räumlichen Grenzen und von Grenzen im Kopf. Wir kommunizieren in einer transnationalen Welt, in der wir gemeinsame Sprachen und Berührungspunkte finden. Uns gemeinsam bewegen ähnliche Freuden, Trauer und auch Ängste im Leben.

Für unsere Gesellschaft wünsche ich mir mehr Margot Käßmanns, mehr Jakob Augsteins. Ich wünsche mir mehr Anzeigen zu Hochzeiten und auch zu Geburten, die unsere pluralistische Realität wieder spiegelt. Auch diese Todesanzeige zeigt unsere Realität in der wir leben wieder. Uns obliegt es, die uns gegenseitig geschenkte Zeit zwischen Geburt und Tod gemeinsam zu gestalten. Aktuell Meinung

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  1. Mika sagt:

    Dem kann ich nur zustimmen. Ein wirklich gelungener Appell! ! !

  2. Nebelung sagt:

    Ich wünsche mir für meine Gesellschaft nicht mehr Augsteins und Käßmanns, schon gar nicht mehr Islam, sonder mehr Demokratie.
    Für Deutschlands Zukunft.