Bei den Sikhs

Fünf Stunden ganz weit weg in Hamburg

Weltweit gibt es rund 20 Millionen Sikh, von denen ungefähr 10.000 in Deutschland leben. Ein Besuch bei der Sikh Gemeinde in Hamburg - der Kontakt, das Geschehen vor Ort und die Eindrücke. Eine Reportage von Anika Schwalbe.

Von Anika Schwalbe Donnerstag, 03.02.2011, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 17.03.2011, 16:28 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Laut schallt die Musik durch die leicht geöffnete Tür. Der für meine Ohren ganz ungewohnte Klang bringt meinen Körper in Schwingung und schürt meine Ungeduld, endlich den Tempel zu betreten.

Zwischen mir und dem Gurdwara Singh Sabha Sikh-Center, eine Art Tempel im Hamburger Stadtteil Wandsbek, liegen ein Raum und ein Junge namens Harmanpreet Singh. Der 12-jährige wurde mir zur Seite gestellt, als seine Mutter erfuhr, dass ich diesen Ort zum ersten Mal besuche. Ruhig steht er in der Tür, lächelt und schaut zu, wie ich drei Mal ansetze, um meine Haare mit einem orangefarbenem Tuch zu bedecken, wartet bis ich meine Schuhe abgelegt habe und führt mich in eine andere Welt.

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Von Prinzessinen und Löwen
Während draußen ein nebliges, graues Wetter die Umrisse der Gebäude im Industriegebiet mit dem Horizont verwischen lässt, tollen im Innern Kinder unter bunten Fähnchen. Im Takt der Musik strömen süße und herzhafte Gerüche durch den Tempel.

Die Sikh - der Eingangsbereich © Anika Schwalbe

Die Sikh - der Eingangsbereich © Anika Schwalbe

Es ist Sonntag, der Tag an dem die Sikh sich ab den Mittagsstunden in ihrer Gemeinde treffen, zusammen beten, musizieren und gemeinsam essen. Es gibt keine festen Zeiten. Aus den 10 Paar Schuhen, die neben meinen im Vorraum stehen, werden zwischenzeitlich um die 100. Nach und nach kommen die Mitglieder der Gemeinde in ihren Tempel.

Gurdwara wird der Ort genannt, an dem sich die Sikhs zu Gottesdiensten treffen. Der wohl bekannteste ist der Hamandir Sahib Amritsar im heutigen Punjab in Nordindien. Weltweit gibt es rund 20 Millionen Sikh, von denen ungefähr 10.000 in Deutschland leben. Es ist eine junge Religion. Im 15. Jahrhundert wurde sie vom ersten der 10 Gurus, Guru Nanak (1469-1539), in Nordindien gegründet. Ihre wichtigsten Grundfesten sind der monotheistische Glauben, die Abkehr vom Aberglauben, das Fehlen jeglicher, gesellschaftlicher Hierarchisierung und die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Als Zeichen der Gleichheit tragen die Frauen den gemeinsamen Nachnamen Kaur (Prinzessin) und die Männer Singh (Löwe).

Das Heilige Buch
Wie Harmanpreet laufe ich zu einem kleinen Altar, geschmückt wie man ihn nur in Bollywoodfilmen vermutet. In eine große, eiserne Truhe werfe ich 2 Euro – eine kleine Spende, wenn man bedenkt, dass viele Sikhs großzügig Scheine spenden. Aber ich denke mir, mal schauen was mich erwartet. Ich zahle ja keine 5 Euro, wenn es mir nicht gefällt. Was für ein merkwürdiger Gedanke. Als würde ich in diesem kleinen Sikh-Tempel eine bestimmte Attraktivität erwarten, für die ich im Nachhinein auch bereit wäre zu zahlen. Überlegungen, die mich beschäftigen, während ich mich auf Knien vor dem Heiligen Buch verbeuge.

Der Altar © Anika Schwalbe

Der Altar © Anika Schwalbe

Das Heilige Buch, Guru Granth Sahib, ist 1430 Seiten stark und beinhaltet keine Dogmen und Geschichten, sondern Lobpreisungen und Weisheiten. Guru Gobind Singh, der zehnte Guru, veranlasste, dass nach seinem Tod nur dem Heilige Buch die Würde eines Gurus zuteil werden dürfe und keinem Menschen mehr.

Die Zeremonie
Links vor dem Altar sitzen überwiegend Frauen mit ihren Kindern, rechts die Männer. Ich sitze im Schneidersitz und während ein Mädchen mir hin und wieder etwas über den Gottesdienst erzählt, gehen mir im Klang der Musik immer wieder Gedanken durch den Kopf: Alle Frauen sehen mit ihren Tüchern und ihrer Kleidung unglaublich hübsch aus. Ich hingegen trage mit meiner blassen Haut dieses orangefarbene Stück Stoff, das mir ständig runterrutscht. Ich schäme mich für das Tuch. Und während mir in regelmäßigen Abständen die Beine einschlafen, sitzen die Sikh mit einer Leichtigkeit im Schneidersitz auf dem mit weißen Bettlaken bedeckten Boden. Bin ich wirklich so ungelenkig?

Während der Zeremonie wechseln sich drei Priester regelmäßig ab. Sie setzen sich hinter den Altar und wedeln mit einer Art Fächer über dem Heiligen Buch. Chauri, ein Fächer, an dessen Ende sich Tierhaar befindet. Während ich mich nach gefühlten zwei Stunden gerade mit dem Sitzen arrangiert habe und die von der Musik und Predigt ausgehende Ruhe aufsauge, werde ich angetippt. Alle stehen schon. Ich erhebe mich, um mich einen kurzen Moment danach mit allen Sikhs vor dem heiligen Buch erneut zu verbeugen. Nun wird laut gebetet. Es sind Worte, die ich nicht verstehe, die aber aufgrund ihres Klanges meine ganze Aufmerksamkeit fordern und sich wie eine Art Gesang den Weg ins Innere meines Körpers bahnen.

Parshad © Anika Schwalbe

Parshad © Anika Schwalbe

Plötzlich kommt ein Priester auf mich zu. Man flüstert mir ins Ohr, die Hände zu öffnen und das Geschenk des Priesters entgegenzunehmen. Er greift in eine Schüssel und formt einen Teig zu einer Art Klumpen, den er mir in die Hand legt. Es ist ein weicher, hellbrauner Brei. Vorsichtig nehme ich ein Stück in den Mund. Es ist süß und warm. Parshad nennt sich diese Süßspeise aus Getreide, Zucker, Butterschmalz und Wasser. Es ist wie eine Art Segen, der nach dem Gottesdienst unter den Anwesenden verteilt wird.

Die 5 Kakars
Kurz darauf steht Charanjit Singh Mayall neben mir. Er ist der Generalsekretär der Gemeinde. Wie einige Männer trägt er einen kunstvoll gebundenen Turban, unter dem sich gepflegtes, ungeschnittenes Haar verbirgt – eins der fünf so genannten Kakars. Diese zeigen, wer sich im Erwachsenenalter einer Art Taufe (Amritsanchar) unterzogen hat. Hierbei nehmen die Sikh Amrit zu sich, ein heiliges Wasser aus speziellem Zucker und Wasser. Zuerst wird es getrunken und anschließend etwas davon in die Augen und die Haare des Sikh gesprenkelt.

Mit dieser Initiation zeigen sie, dass sie mit der Lebensweise einverstanden sind und die 5 Kakars tragen werden. Zu diesen zählen Kes (das ungeschnitte, gepflegte Haar steht u.a. für Stärke und Achtung vor Gottes Schöpfung), Kangha (ein Holzkamm, der Sauberkeit und Reinheit symbolisiert, da mit ihm das ungeschnittene Haar gepflegt wird), Kirpan (ein traditioneller Dolch, der Gerechtigkeit und spirituelle Kraft ausdrückt), Kachera (ein kurze Hose, die für Sauberkeit und Keuschheit steht) und Kara (ein Stahl- bzw. Eisenarmreif, der die Verbindung zu Gott symbolisiert und früher auch Schutz vor Schwerthieben bot).

Gewürzketchup
Bevor ich in den Gurdwara kam, hatte ich mit Charanjit Singh Mayall telefoniert. Er informierte mich darüber, in keinem Fall mit Restalkohol oder gar Tabak den Tempel zu betreten, und versprach, mich herumzuführen. Er lädt mich nun nach dem Gottesdienst ein, am gemeinsamen Mittagessen teilzunehmen. Leckeres, indisches Essen und eine ältere Frau, die mich bittet, neben ihr Platz zu nehmen – wer kann da schon „Nein“ sagen. Während des Essens sitzen alle als Zeichen der Gleichheit auf dem Fußboden.

Das Essen bei den Sikhs © Anika Schwalbe

Das Essen bei den Sikhs © Anika Schwalbe

Und schon nach ein paar Minuten erhalte ich ein Tablett mit verschiedenen warmen Speisen und dazu einen silbernen Becher mit einer Art Yogi-Tee. Neben paniertem Blumenkohl, zu dem eine scharfe bräunlich-rote Soße gereicht wird, finde ich auch Naan-Brot, Curry, Milchreis und zwei „Kugeln“. Die eine sieht aus, als wäre sie in Sirup eingelegt und die andere ist eher trocken und gelblich. Ich probiere sie erst einmal ohne Soße. Glücklicherweise, denn die beiden Kugeln schmecken süßlich. Das Tablett wird so lang aufgefüllt, bis man deutlich zeigt, satt zu sein.

Als ich ein Mädchen frage, was alles auf meinem Tablett liegt, erklärt sie mir einiges, macht kurz eine Pause und sagt: „Die Soße ist Gewürzketchup“. „Was?“, denke ich mir. Naja, aber es schmeckt und wer hätte gedacht, dass die Sikhs trotz ihrer mundenden Speisen deutsches Gewürzketchup mögen. Nach 5 Stunden ganz weit weg in Hamburg verabschiede ich mich, lasse mein orangefarbenes Tuch im Vorraum liegen und gehe mit der Gewissheit, nicht das letzte Mal da gewesen zu sein. Aber das erste und letzte Mal ohne mein eigenes Tuch. Gesellschaft

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  1. Thomas Hieber sagt:

    Hallo Frau Schwalbe,

    danke für Ihre sehr eindrucksvoll geschriebene Reportage über die Sikhs in Hamburg. Sie leben ihren Glauben und ihre Kultur nicht nur in Hamburg versteckt in einem Industriegebiet sondern auch in vielen anderen Großstädten in Deutschland.
    Bei meinem Besuch in eben diesem Gurdwara in Hamburg meinte der Vorsitzende der Sikh Gemeinschaft auf meine Frage was wir Deutsche für ihre Glaubensgemeinschaft tun können. “ Laden Sie Leute und Gruppen ein uns zu besuchen! Viele Deutsche denken, weil wir einen Turban tragen dass wir von den Taliban sind! Wir leben hier unter euch und möchten unser Leben und unsere Kultur mit euch teilen“.

    Vorurteile lassen sich nur in der Begegnung und im Gespräch abbauen. Die Sikhs sind immer sehr freundlich und hilfsbereit – und übrigens nicht nur Sonntags gibt es ein einfaches kostenloses Mittagessen in jedem Gurdwara . Die Sikhs sehen diesen Dienst als ‚SEWA‘ – Dienst an den Mitmenschen an.
    Ich war schon in vielen Gurdwaras und habe mit einigen Sikhs zusammen gegessen und jedesmal ist mir eine Wärme und Offenheit entgegengekommen. Diese Menschen aus dem Punjab, die bei uns in Deutschland leben wollen sich integrieren und dazugehören – doch wollen sie auch die Freiheit haben, ihren Glauben und ihre Kultur so zu leben wie sie es für richtig halten.

    Ich wünsche mir, dass in einem Land wie Deutschland das möglich ist und ich wünsche mir, dass wir Deutsche uns mehr öffnen für diese Menschen und sie nicht als „Fremde“ betrachten. Sie sind unsere neuen Nachbarn und wollen mit uns zusammen leben, lachen, feiern und teilhaben an der Deutschen Gesellschaft.

    P.S Frau Schwalbe- der heilige Tempel in Amritsar liegt nicht in Pakistan sondern im Bundesstaat Punjab in Nord-Indien

  2. BiKer sagt:

    auch von mir ein großes dankeschön an die autorin und an migazin, die solche reportagen groß bringt. bitte mehr davon! das leben in deutschland ist soo vielfältig. man sieht es nur nicht, weil sich die meisten minderheiten meist in industriegebieten niederlassen dürfen/müssen/können. das ist einfach nur peinlich und man müsste sich dafür schämen. erfreulich ist daher zu wissen, dass es menschen gibt, die den weg in das industriegebiet nicht scheuen. danke!

  3. Pragmatikerin sagt:

    Gut geschrieben Frau Schwalbe :-)

    Ihr Bericht hat in mir den Wunsch geweckt, zu googlen wo in Frankfurt so ein Sikh-Tempel ist. Gesehen habe ich schon einge Männer mit dieser Art Turban; kleine Jungen haben eine weisse Bedeckung auf, mit einem kleinen „Knüppelchen“ auf dem Kopf, wo wahrscheinlich die Haare
    eingebunden sind.

    Dass sich die meisten Tempel/Gebetshäuser/Moscheen in einem Industriegebiet befinden hat meiner Meinung nach sicher nur mit den dort vorhandenen Parkplätzen zu tun, oder? Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass Gotteshäuser heute noch in der Innenstadt gebaut werden können, weil die Bodenpreise zu teuer und keine Parkplätze vorhanden sind.

    Die Reichung des „Breies“ nach dem Gottesdienst erinnert mich an ein Ritual in der kath. Kirche. Dort werden geweihte Hostien (Oblaten) gereicht.

    Alles in allem finde ich diese Reportage sehr gelungen und sehr anschaulich vorgetragen, danke.

    Pragmatikerin

  4. Amrit Kaur sagt:

    I think it’s great that people from other cultures and religions are actually trying to understand other people and their beliefs. Now days, people dont‘ care about who and what they are. For example, even some Sikh people don’t know what they believe in and what Guru Granth Sahib Ji tells us to do. I totally believe that the more people are interested in understanding other religion’s, the more this world can get along. So, what you did, Anika Schwalbe, was great! I am so glad that there are people who want to expierence something new and are ready to go to unfamiliar places and then report what they saw and thought of it. I, myself, go to a little private school in America and the school, which is actually a baptist church. I always see people cleaning up for the members who come in the evening to pray and everyone at the church is very nice to me. I always talk to the Pastor and even he is interested in why I cover my head. A lot of people at school ask me why we aren’t allowed to remove our hair and I explain them our belief as detailed as I can. They understand. So, these are very important steps to take FOR EVERYONE so that things like racism and stereotyping can stop. Of course, it might seem strange to someone to see a person wearing a suit or turban, but we shouldn’t be scared of people just because they look different. It is so good that you actually wanted to know about our 5 K’s and Guru Granth Sahib Ji, and I hope that you won’t be the last one to follow our steps into the Gurdwara, while not being a Sikh. Thank you! The step you made was indescribably wonderful.

    — Amrit Kaur

  5. Rubail sagt:

    Hello Ms. Schwalbe,
    First of all I would like to thank you for putting such beautifull thoughts. I am DAAD Phd scholar (Marine science) recently came in Germany (hamburg) but really touched with such a enormous amount of love the people gives here. We all need to understand each other well so that there should not be any misunderstanding. I am also thankfull of Amrit for explaining about sikhs.This is very true that we look different and it is strange for someone to see a person wearing a turban, but we should not be scared of people just because they look different. Same thing is happening with me but I always explained them and they even are more curious to know more about sikhism. Love to see this and really touched with your thoughts. Thank you so much again.

  6. Sikh sagt:

    Ich würde zu dem Bericht noch hinzufügen, dass die „Musik“ , die du gehört hast Kirtan heisst. Es werden Auszüge aus dem Guru Granth Sahib ji rezitiert und gesungen, um den einizigen Herr(Schöpfer) zu preisen. Das „Altar“ heisst „Palki sahib“, worauf sich der Guru Granth Sahib ji befindet. Worein du Geld geworfen hast, nennt sich Golak o. Goluk , es ist einem frei überlassen Geld einzuwerfen oder nicht. Man spendet damit der Gebetsstätte/Gurdwara – Tempel sehe ich hier als schlechtes Synonym, um z.B. das Langar(kostenlose Essen) zu finanzieren. Weitergehend, nehmen nicht nur Erwachsene Amrit, sondern auch Kinder, man nimmt es dann, wenn man bereit ist , sein Leben nach Gott/dem Guru zu richten, zu sich. Alles in allem, fande ich den Bericht jedoch sehr aufschlußreich und Informativ.

    -Sikh

  7. ragdib singh sagt:

    Hallo, zuerst wollte ich ein paar dinge weiter vertiefen. Dies tat aber der kollege sikh bereits. Insgesamt eine sehr gute info.
    Würde mich freuen wenn sie im sikh temple in essen vorbeischauen wurden.