Bayerischer Lehrerverband

Migrantenkinder werden seit 50 Jahren benachteiligt

Der Bayerische Lehrerverband fordert einen Stopp der derzeitigen Integrationsdebatten. Das sei wenig hilfreich und absolut überflüssig. Migrantenkinder fühlten sich dadurch verletzt und allein gelassen. Zweisprachigkeit sei kein Stigma, sondern eine Bereicherung.

Von Freitag, 12.11.2010, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 17.11.2010, 0:30 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Der Präsident des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV), Klaus Wenzel, hat deutlich mehr Engagement für die Verbesserung der Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund gefordert. „Anstatt immer wieder mangelnden Integrationswillen zu unterstellen, sollten Staat und Gesellschaft Bedingungen schaffen, die Integrationsprozesse erleichtern. Entscheidend ist es hierbei, auf die Bedürfnisse von Migranten einzugehen“, erklärte er gestern in München. Das setze intensiven Austausch voraus und die Bereitschaft, aufeinander zu- und einzugehen. „Wir alle sind gefordert.“

„Anstatt immer wieder mangelnden Integrationswillen zu unterstellen, sollten Staat und Gesellschaft Bedingungen schaffen, die Integrationsprozesse erleichtern.“

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Von der derzeitigen Diskussion verletzt
Es fänden jenseits der von Unkenntnis und Populismus gekennzeichneten Integrationsdebatte viele solcher Prozesse statt – auch und gerade an Haupt – bzw. Mittelschulen, die besonders häufig von Kindern aus Migrantenfamilien besucht werden. „Viele Schüler und Lehrer leisten hier vorbildliche Arbeit“, betonte der BLLV-Präsident. „Sie fühlen sich von der derzeitigen Diskussion nicht nur verletzt, sondern auch in ihrem Bemühen allein gelassen.“ Das sei wenig hilfreich und absolut überflüssig. Ausdrücklich wies Wenzel auf den hohen Wert der Zweisprachigkeit hin. Sie sei kein Stigma, sondern eine Bereicherung, die als Chance begriffen werden sollte.

Natürlich müssten für eine erfolgreiche Integration auch die Rahmenbedingungen stimmen – „und sie muss vor allem wirklich gewollt sein“, so Wenzel. „Das war sie über viele Jahre nicht, und sie ist es in Teilen der Gesellschaft ganz offenbar immer noch nicht.“ Dabei stehe längst fest: „Bayern ist ein Einwanderungsland mit allen Konsequenzen. Es muss daher selbstverständlich sein, ein ausreichendes Angebot an Deutschkursen für Kinder und Erwachsene zu schaffen, ausgrenzende Schulstrukturen dagegen schrittweise abzuschaffen. Es muss außerdem selbstverständlich sein, ein tolerantes Sozialklima zu schaffen mit dem Ziel, dass kein Jugendlicher die Schule ohne anschlussfähigen Abschluss verlässt und möglichst viele junge Menschen möglichst hohe Bildungsabschlüsse erreichen.“

Die Realität in Bayern
Die Realität an bayerischen Schulen sieht trotz intensiver Bemühungen der Lehrkräfte anders aus: So zeigt der Bayerische Bildungsbericht 2009 auf, dass junge Migranten an allen Schularten Bayerns einen geringeren Schulerfolg als deutsche Kinder und Jugendliche haben. Ihr Anteil an den Hauptschulen liegt bei bis zu 66,4%, an den Gymnasien bei nur 19%. Bei Kindern aus sog. ehemaligen Anwerberstaaten wie der Türkei, Italien, Bosnien-Herzegowina oder Griechenland sieht es noch schlechter aus. Zwischen zwei Drittel und einem Dreiviertel besucht die Hauptschule. Der Zahlenvergleich erster und zweiter Generationen legt offen, dass mit 59,7% mehr Kinder der zweiten Generation auf die Hauptschule gehen als Kinder der ersten Generation mit 57,5%, obwohl die meisten von ihnen Kindergärten und Grundschulen von Anfang an besucht haben. Vergleiche erreichter Schulabschlüsse von ausländischen und deutschen Schülern zeigen, dass ausländische Schüler bis zu dreimal häufiger scheitern als deutsche, also die Schule ohne Abschluss verlassen. Auch eine Studienberechtigung erlangen deutsche Schüler dreimal häufiger als ausländische. Die Erwerbslosenquote war 2008 bei Migranten um das 2,8-fache höher als bei Personen ohne Migratonshintergrund – ihr Armutsrisiko wird als doppelt so hoch eingeschätzt.

„Sie haben schlicht und einfach ein Recht auf beste Bildung und dürfen nicht diskriminiert werden. Erfolgreiche Schulpolitik ist ein wesentlicher Beitrag zu Integration und Teilhabe.“

Seit 50 Jahren benachteiligt
„Die Zahlen lassen eine alarmierende Schlussfolgerung zu“, so Wenzel. Es zeige sich, dass seit rund 50 Jahren Kinder sog. Einwandererfamilien und Kinder mit Migrationshintergrund benachteiligt werden. „Beste Bemühungen für verbesserte Bildungspartizipation und Integration laufen vielfach ins Leere, weil Schüler aus Migrantenfamilien entweder keinen Schulabschluss schaffen oder aber ihr erreichter Abschluss vielfach keine berufliche Perspektive eröffnet.“

Wenzel appellierte an die Staatsregierung, Probleme, die es trotz vieler positiver Beispiele auch in Bayern gibt, nicht schön zu reden. „Wir müssen Möglichkeiten schaffen, die Bildungskarrieren fördern, nicht verhindern oder erschweren. Wir dürfen nicht länger Potentiale verschenken, weil wir jeden Einzelnen brauchen.“ Aus Sicht des BLLV ist es ein erster Schritt, flächendeckend und ausreichend in die frühe Förderung von Kindern sowie in eine tiefgreifende Reform der Schulpolitik zu investieren. „Künftig muss es darum gehen, möglichst vielen Heranwachsenden möglichst lange alle Wege offen zu lassen“, so Wenzel.

1 % der Lehrer und 25 % der Schüler mit Migrationshintergrund
Gleichzeitig müsse es auch selbstverständlich werden, Migranten für den Lehrerberuf zu gewinnen. „Derzeit haben bundesweit lediglich ein Prozent der Lehrerinnen und Lehrer Migrationshintergrund, während dies unter den Schülern rund 25 Prozent sind. In vielen Ballungszentren gibt es Quoten von 50 Prozent und mehr. Aufgrund der demografischen Entwicklung – Statistiker meldeten erst im September, dass 2020 jeder vierte Bayer einen Migrationshintergrund haben wird – kann es sich der Freistaat nicht länger erlauben, tausende junge Menschen von höheren Bildungsabschlüssen auszuschließen.“

Je besser sich ausländische Jugendliche qualifizieren könnten, umso größer die Chance, dass auch sie in die Sozialsysteme einzahlen. „Es gibt Forscher, die beziffern die dadurch erwirtschafteten Summen auf inzwischen zweistellige Milliardenbeträge“, sagte Wenzel. Gleichzeitig warnte er davor, die Potentiale junger Ausländer unter rein wirtschaftlichen Aspekten zu sehen: „Sie haben schlicht und einfach ein Recht auf beste Bildung und dürfen nicht diskriminiert werden. Erfolgreiche Schulpolitik ist ein wesentlicher Beitrag zu Integration und Teilhabe.“

Spaenles Verteidigung
Der BLLV übersehe sichtbare Erfolge der schulischen Integrationsarbeit. Bayern biete Kindern und Jugendlichen von Zuwandererfamilien eine intensive schulische Förderung an. Für eine gelingende Integration sei aber auch die aktive Mitarbeit der Eltern von Kindern mit Migrationshintergrund und den Migrantenorganisationen gefragt, verteidigte sich Bayerns Kultusminister Dr. Ludwig Spaenle (CSU) gestern in München. Ob seitens der Migranteneltern und Migrantenorganisationen überhaupt eine Verweigerungshaltung auszumachen ist, führte der CSU-Politiker allerdings nicht aus. (es) Aktuell Gesellschaft

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  1. H.L. sagt:

    Solange es Lehrer gibt, die Kinder wegen ihrer Herkunft moppen, solange es Direktoren/innen existieren, die dies noch unterstützen, so lange Elternvertreter dies bewußt hinnehmen und solange die Schulpolitik G8 befürwortet und dazu noch Einsparungen von pädagogischen Fachkräften zuläßt reden die Politiker nur schöne Worte.

  2. Der Mensch lebt und leidet INNEN, unsere Pädagogik aber konstruiert nur ein immer perfekteres AUSSEN. Schuld sind dann, wie eh und je, immer die anderen, weil sie nicht richtig mitgemacht, sich nicht eingefügt und unterworfen haben. Politiker und Pädagogen machen es immer besser und die Untertanen sträuben sich dagegen. So schön könnte alles funktionieren, wenn die „Benachteiligten“ endlich die für sie passend konstruierten Vorteile annehmen würden!
    Als Ich-kann-Schule-Lehrer frage ich mich, wann die herrschaftliche Beglückung mit ihren Strukturen aus den Zeiten der Leibeigenschaft sich endlich der Realität des Lebens annähren wird.
    Längst wissen wir, dass der Mensch nicht nichtlernen kann; wir alle lernen 24 Stunden jeden Tag, unser Geist ist nicht untätig. Dieses Lernen ist aber ganz offensichtlich unerwünscht: nur „schulisches Lernen“ ist als Lernen zugelassen, und das ist bestenfalls eine Perversion von Lernen.
    In der neuen Ich-kann-Schule nehme ich LERNEN & LEHREN wörtlich: Der Lehrer darf nicht weiter als Lehrplanvollstreckungsbeamter fungieren, er hat als mitreißendes Vorbild im LERNEN vorauszugehen: DAS ist LEHREN. Wenn wir den unseligen DRUCK, der nichts wachsen lässt endlich durch das Grundprinzip der neuen Ich-kann-Schule: den SOG ablösen, kann Aufrichten, Wachsen, Kräfte punktgenau Lenken stattfinden; das alles geht nicht mit Druck sondern erst mit SOGwirkung. Und mit SOG werden wir letztlich jedem gerecht: wenn wir uns überlegen, was ihn ZIEHEN kann. Dann müssen allerdings WIR LERNEN, mit diesen feinen kräften umzugehen und mit den Standardgrobheiten der Pädagogik ist Schluss. Die Ich-kann-Schule zeigt, dass das ganz praktisch funktioniert.
    Ich grüße freundlich.
    Franz Josef Neffe

  3. Songül sagt:

    Wie Balsam auf meiner Seele, solch seltene Statements. Dr. Spaenles undifferenzierte Mainstream-Statements erinnern mich dagegen an eine kaputte Schallplatte.