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Szene aus dem Film "Human Flow" von Ai Weiwei © Amazon Studios

Dokumentarfilm

Die Menschen hinter der Zahl

Beim Filmfestival von Venedig plädiert der chinesische Künstler Ai Weiwei mit seinem Dokumentarfilm "Human Flow" für Empathie mit den Flüchtlingen. Guillermo Del Toros "The Shape of Water" handelt von einem Monster, das ebenso Mitgefühl braucht.

Von Barbara Schweizerhof Dienstag, 05.09.2017, 4:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 06.09.2017, 18:25 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Wenn einer der berühmtesten Künstler der Gegenwart einen Dokumentarfilm dreht über eines der am heißesten debattierten Themen der Zeit – dann unterstellt man ihm erst mal Effekthascherei. Der Chinese Ai Weiwei, der in seiner Heimat Haft und Verfolgung erdulden musste und erst 2015 China wieder verlassen durfte, hat die Zeit und Gelegenheit seither genutzt. Nicht nur um an der Berliner Universität der Künste als Gastprofessor zu lehren, sondern auch, um in nicht weniger als 23 Ländern in Augenschein zu nehmen, was hinter den Schlagzeilen unsichtbar zu werden droht: das menschliche Antlitz der globalen „Flüchtlingskrise“.

Aus den dabei entstandenen Aufnahmen hat Ai Weiwei mit deutschem Produktionsgeldern nun einen Dokumentarfilm mit dem Titel „Human Flow“ vorgelegt, der herausragt aus der Welle an Problemfilmen und Nachrichtengeschichten, die es bereits zum Thema gibt. Eine begeisterte Aufnahme bei der Premiere auf dem 74. Filmfestival von Venedig kürte ihn augenblicklich zu den großen Favoriten auf einen Goldenen Löwen.

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Flüchtlingsmigration in ihrer Totalität

Was „Human Flow“ so besonders macht, ist gar nicht so leicht zu beschreiben. Man kennt die Bilder der Zelt- und Containerstädte, der überquellenden Boote, der vor Kälte zitternden Ankömmlinge in ihren glitzernden Wärmefolien. Die Aufnahmen, die Ai Weiwei und sein 200-köpfiges Team in Griechenland, Frankreich, Deutschland, Bangladesch, der Türkei und weiteren 18 Ländern machten, besitzen für sich genommen keinen neuen Nachrichtenwert.

Anders ist der Akzent, den der chinesische Künstler bei der Auswahl und Montage setzt: Über 140 Minuten Laufzeit wird deutlich, dass es ihm darum geht, das Phänomen der globalen Flüchtlingsmigration in ihrer Totalität zu erfassen – ohne hinter all den Zahlen und Statistiken vergessen zu machen, dass es um menschliche Schicksale geht.

Fakten und Zahlen zwischendurch

Der Film wechselt zwischen beeindruckenden Drohnenaufnahmen, die aus Luftperspektive die Größe und Monumentalität des Geschehens unterstreichen, und Interviewpassagen und Beobachtungen vor Ort. Manchmal ist Ai Weiwei selbst im Bild zu sehen, mit seinem Handy filmend oder ein Gespräch beginnend.

Während die Bilder von Land zu Land springen, erscheinen Zitate von Poeten und Politikern auf der Leinwand. Und zwischendurch immer wieder Fakten und Zahlen: 65 Millionen Flüchtende weltweit, so viel wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg. 5.000 Ertrunkene im Mittelmehr allein 2015. Oder auch: wo vor dem Fall der Mauer elf Länder ihre Grenzen mit Stacheldraht und Mauer schützten, sind es nun mehr als 70.

Ein Film ohne Lösung

Den erschlagenden Fakten setzt Ai Weiwei das beschreibende Detail gegenüber: die Tasse Tee, mit der die Bootsflüchtlinge auf der Insel Lesbos aufgenommen werden. Die Langeweile, über die sich das junge Mädchen im Tempelhofer Hangar in Berlin beklagt. Und immer wieder die orangenen Rettungsjacken. Das Schlussbild zeigt Tausende davon, wie sie als Berge zurückbleiben, während die Drohnenkamera in die Lüfte steigt. „Human Flow“ ist kein Film, der Lösungen anbietet oder für ein Ziel agitiert – es sei denn dafür, hinter der Größe des Problems auf die Humanität der Einzelnen zu bestehen. Und Empathie zu bewahren.

Wie es manchmal auf Filmfestivals geschieht, verändert sich mit Ai Weiweis „Human Flow“ die Perspektive auf andere Filme, nicht nur in Preisfavoriten-Hinsicht. So fällt plötzlich auf, dass auch dem anderen enthusiastisch aufgenommenen Film des Tages, Guillermo Del Toros „The Shape of Water“ das Thema Empathie eingeschrieben ist.

Mischung zwischen Märchen und Horror

In dem als Mischung zwischen Märchen und Horror angesiedelten Film, der in einer amerikanischen Geheimdienststation Anfang der 60er Jahre, also zu Zeiten des Kalten Kriegs spielt, entdeckt eine Putzfrau im Top-Secret-Labor eine Art männliche Meerjungfrau, ein Zwitterwesen, das vom Geheimdienst aus dem Amazonas entführt wurde.

Wo sadistische Agenten es foltern, weil sie sich davon irrationaler Weise einen Vorsprung vor den Russen erhoffen, nähert sich die von Sally Hawkins gespielte stumme Putzfrau ihm mit Zeichensprache, hart gekochten Eiern und Musik. Sie entdeckt so seine „Menschlichkeit“ des Wesens, das von den Agenten wohlweislich stets als „Objekt“ bezeichnet wird. Mit Mut zur Nostalgie inszeniert Del Toro sein „surreales Märchen“ zwar als berückende Genre-Hommage an die Monsterfilme der 50er Jahre, berührt aber mit der Betonung auf dem Thema der Einfühlung und Kommunikation mit dem Anderen gleichzeitig das vielleicht wichtigste Thema der Zeit. (epd/mig) Aktuell Rezension

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