Türken, Türkei, Köln, Demo, Kundgebung, Demonstration
Pro Türkei-Demo in Köln

Konflikt

Loyalität gibt es nicht zum Nulltarif

Wer Loyalität fordert, muss sich um die Sorgen und Belange der Menschen kümmern, NSU aufklären, Vertrauen schaffen, ihnen das Gefühl vermitteln, bedingungsloser Teil der Gesellschaft zu sein und nicht nur unter Vorbehalt. Von Ekrem Şenol

Von Mittwoch, 24.08.2016, 12:41 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 25.08.2016, 23:17 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat mit Verweis auf die Türkei-Demo in Köln von türkischstämmigen Bürgern in Deutschland ein „hohes Maß an Loyalität“ gefordert. Diese Forderung ist ein Ausdruck von Misstrauen und sie kommt nicht von ungefähr. Die allermeisten Türkischstämmigen in Deutschland werden in nahezu allen Lebenslangen loyal gegenüber ihrer Wahlheimat Deutschland sein. Bei Interessenskollisionen mit der Türkei jedoch wird der innere Loyalitätskonflikt bei vielen zugunsten der alten Heimat ausfallen.

Warum?

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Nach dem Attentat im französischen Nizza am 14. Juli 2016 berichteten Medien landauf, landab über etwaige tote und verletzte deutsche Staatsbürger. Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes trat zeitnah vor die Presse und informierte aus erster Hand. Der Putschversuch in der Türkei wurde nur einen Tag später begangen. Auch dieser Angriff fiel in mehreren Bundesländern in die Sommerferien. Bei mehr als 290 Toten und über 2.100 Verletzten war es nicht unwahrscheinlich, dass vor allem „Deutsch-Türken“ unter den Opfern sein könnten. Eine öffentliche Erklärung des Auswärtigen Amtes gab es dazu aber nicht.

Gab es keine deutschen Opfer in der Türkei?

Doch, die gab es. Auf Anfrage des MiGAZIN teilte das Auswärtige Amt mit – es brauchte mehrere Tage für die Antwort –, dass am Putschwochenende „zwei deutsche Staatsangehörige verletzt wurden.“ Mindestens eine der beiden Personen hatte „auch die türkische Staatsangehörigkeit“ – vermutlich hatten beide einen türkischen Migrationshintergrund, das werde aber nicht erfasst. Eine öffentliche Erklärung, so das Außenministerium weiter, habe es nicht gegeben, weil deutsche Staatsangehörige „sich rund um die Uhr an das Krisenreaktionszentrum“ wenden könnten, „wenn sie in Sorge um deutsche Familienangehörige sind.“

Wie praktisch, wie abstoßend, wie kalt. Um türkeistämmige Opfer kümmert sich das Verwaltungsapparat – auf Nachfrage, sofern Sorge vorhanden; um deutsche Opfer kümmert sich das Außenministerium höchstpersönlich – live vor laufenden Kameras, mit passender Tonlage, angemessener Mimik und voller Anteilnahme.

Verstörende, irritierende, abstoßende, Beispiele wie diese gibt es viele. Nach dem Bekanntwerden des NSU-Komplexes hat Bundeskanzlerin Merkel höchstpersönlich lückenlose Aufklärung versprochen. Dieses Versprechen ist bis heute nicht eingelöst. Und niemand glaubt noch daran, dass diese Verbrechen jemals aufgeklärt und aufgearbeitet werden – weder politisch noch juristisch. Würde der NSU-Prozess in der Türkei stattfinden, würden Politiker, internationale Beobachter und Menschenrechtsorganisationen vermutlich von einem Rumgeeiere um den heißen Brei reden, von einem Skandal, vom tiefen Staat, von dubiosen Selbstmorden und vom politischen Unwillen, die Morde aufzuklären, und von der plötzlichen Kapitulation des Rechtsstaats bei der Aufklärung von Morden an neun „Ausländern“, von denen acht Türken waren.

Loyalität gibt es nicht zum Nulltarif – in Deutschland nicht, in der Türkei nicht und anderswo auch nicht. Wer Loyalität einfordert, muss etwas dafür leisten. Er muss den Menschen ein Zugehörigkeitsgefühl vermitteln, er muss sich um sie sorgen und gegebenenfalls auch Trost spenden. Er muss den Menschen das Gefühl geben, dass sie und ihre Rechte gut aufgehoben sind und sie notfalls auch dann durchgesetzt werden, wenn es ungemütlich wird. Er muss den Menschen zeigen, dass sie bedingungsloser Teil der Gesellschaft sind, anstatt sie vor immer neue Prüfungen zu stellen und von ihnen immer neue Bekenntnisse abzuverlangen.

Angela Merkel hat drei Millionen „Türkischstämmigen“ in Deutschland zu mehr Loyalität aufgefordert, weil dreißigtausend an einer türkischen Demokratie-Kundgebung teilgenommen haben. Das ist ein Prozent aller Türkeistämmigen in Deutschland. Erdoğan hat die Loyalität der 99 Prozent, die der Türkei-Kundgebung ferngeblieben sind, nicht in Frage gestellt. Ein Lehrstück. Aktuell Meinung

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  1. ahmetzade sagt:

    Danke für diesen erhellenden Beitrag, Herr Şenol. Dem ist nichts hinzuzufügen. Sie haben hier vielen aus der Seele gesprochen.

  2. Gero sagt:

    Angela Merkel hat drei Millionen „Türkischstämmigen“ in Deutschland zu mehr Loyalität aufgefordert, weil dreißigtausend an einer türkischen Demokratie-Kundgebung teilgenommen haben.
    _____________

    Nein. Sie hat Loyalität eingefordert, weil die Hälfte der hier lebenden Türken AUCH einen deutschen Pass haben. Sie können nicht 2 Herren dienen. Es sind eben nicht „nur“ einige zigtausend hier lebender Türken, die ihrem „Führer“ zujubeln, es sind viel, viel mehr. Der klägliche Rest traut sich nicht mehr den Munmd aufzumachen – es könnte ihm schaden…

  3. Lynxx sagt:

    Die Tatsache, dass es Loyalität nicht zum Nulltarif gibt, trifft nicht nur für bundesdeutsche Staatsbürger türkischer Herkunft zu, sondern auch viele Muslime, darunter Konvertiten deutscher Herkunft, die sich mit ihrer neuen Religion auf einmal als Bürger zweiter oder dritter Klasse behandelt und unter den Generalverdacht des Terrorismus gestellt sehen. Der Staat und die Politik haben hier eine Bringschuld, bevor sie Loyalität einfordern können.

  4. Songül sagt:

    Auf den Vergleich muss man erstmal kommen …
    Ja, sehr wahrscheinlich, dass vor allem Deutsch-Türken unter den Opfern waren, aber eben auch wahrscheinlich, dass Deutsch-Deutsche unter den Opfern waren … Und nun …?
    @Gero
    Und die hier lebenden Türken ohne deutschen Pass sind nicht zu Loyalität verpflichtet?

  5. Franzi sagt:

    Es ist nicht schlimm, wenn man seinem eigenen Staat ggü. nicht mehr loyal sein will, das kann vor kommen. Nur wenn man sich einem anderen Staat zuwendet, in dem die hier vom Autor genannten Kritikpunkte noch eine ganze Ecke schlimmer sind, dann kommt man schon ins grübeln, ob hier keine großangelegte Aufwiegelung statt findet.

    Man beschwert sich doch auch nicht über mangelnde Demokratie in Deutschland und wandert dann nach Nordkorea aus…eine gewisse Konsequenz muss schon da sein um ernst genommen werden zu können.