Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

Zwischenbilanz eines brüchigen Konsenses

Das Gleichbehandlungsgesetz stellt einen wichtigen Schritt in Richtung Gleichstellung und gleichberechtigte Teilhabe dar. Nicht selten wird es aber eng ausgelegt und kommt an seine Grenzen - Aleksandra Lewicki über die Herausforderungen dieses Gesetzes.

Von Aleksandra Lewicki Donnerstag, 24.04.2014, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 30.04.2014, 1:00 Uhr Lesedauer: 16 Minuten  |  

Im Jahr 2006 trat in Deutschland das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) in Kraft. Es war das Ergebnis eines langwierigen Prozesses, der in den späten 1990er Jahren auf europäischer Ebene begonnen hatte. Die europäischen Regierungen hatten sich 1999 auf zwei Gleichstellungsrichtlinien 1 geeinigt, die anschließend von allen Mitgliedstaaten in nationales Recht umgesetzt wurden. Der deutsche Gesetzgebungsprozess zog sich über mehrere Legislaturperioden hin; es entstanden verschiedene Entwürfe, die wieder verworfen wurden, und die Europäische Kommission musste die Bundesregierung mehrfach ermahnen, ihrer Umsetzungsverpflichtung nachzukommen. 2 Das Gesetz, das schließlich verabschiedet werden konnte, stellt einen Kompromiss zwischen den Positionen einflussreicher gesellschaftlicher Akteure dar und ist nach Einschätzung der Europäischen Kommission nicht durchgehend europarechtskonform. 3

Aus heutiger Sicht stellt die Verabschiedung eines Antidiskriminierungsgesetzes einen wichtigen Schritt in Richtung Gleichstellung und gleichberechtigte Teilhabe dar. Rechtsexperten mahnen jedoch eine europarechtskonforme Auslegung der umstrittenen Regelungen des AGG an, 4 während Antidiskriminierungs- und Betroffenenverbände Gesetzeslücken bemängeln 5. Das Büro zur Umsetzung von Gleichbehandlung e.V. (BUG) hat 2013 umfassende Vorschläge zu einer Novellierung des AGG erarbeitet. 6

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Angesichts der anhaltenden Kritik untersucht der vorliegende Beitrag drei Regelungsbereiche des AGG näher, die den Diskriminierungsschutz in öffentlichen Einrichtungen maßgeblich bestimmen. Der Beitrag zeigt, wie das Lobbying der Kirchen die Rechtslage im Pflege- und Wohlfahrtssektor geprägt hat, erörtert die Reichweite des Schutzes vor institutioneller Diskriminierung vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) und analysiert den Umfang des Mandats und die Ausstattung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS).

Obwohl ein systematischer Vergleich über den Rahmen dieses Beitrags hinausgeht, 7 veranschaulicht ein Blick nach Großbritannien einige Spezifika der deutschen Antidiskriminierungspolitik. Es zeigt sich dabei, dass das AGG hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt und nur unzureichenden Diskriminierungsschutz in öffentlichen Einrichtungen bietet. Der Kompromiss, der die Entstehung des AGG ermöglichte, ist daher aus heutiger Sicht brüchig. Der Beitrag folgert, dass die in einer vielfältigen Gesellschaft vertretenen Erfahrungswelten, Wahrnehmungen und Bedürfnisse in der Gestaltung ihrer öffentlichen Einrichtungen ausdrücklich Berücksichtigung finden müssen.

Rechtsschutz im Überblick
Der Diskriminierungsschutz in Deutschland stützte sich vor 2006 weitgehend auf das Grundgesetz. Es schützt vor allem vor der Ungleichbehandlung vor dem Gesetz und durch den Staat. Artikel 3 schützt jedes Individuum vor Benachteiligung aufgrund der Abstammung, religiösen oder politischen Anschauung, „Rasse“, Sprache, Heimat, Herkunft, des Glaubens oder einer Behinderung. Der Staat setzt sich darüber hinaus aktiv für die Gleichstellung der Geschlechter ein; der positive Handlungsauftrag in Artikel 3 Absatz 2 beschränkt sich allerdings auf das Merkmal Geschlecht. Artikel 4 garantiert die Freiheit des Glaubens, Gewissens, religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sowie die ungestörte Religionsausübung. Das Betriebsverfassungsgesetz konkretisierte einige dieser Bestimmungen weitergehend. Vor der Verabschiedung des AGG gab es keine über den Schutz vor dem Gesetz, der Staatsgewalt und in bestimmten Bereichen des Arbeitslebens hinausgehenden Regelungen für das gesellschaftliche Zusammenleben wie beispielsweise für den Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt oder zu privaten Dienstleistungen.

Nachdem zivilgesellschaftliche Akteure jahrelang ein Antidiskriminierungsgesetz gefordert hatten, wurde es über den Umweg der europäischen Gesetzgebung schließlich möglich, die bestehenden Bestimmungen auszuweiten. Das AGG zielt darauf ab, Benachteiligungen aus Gründen der „Rasse“, der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, aufgrund einer Behinderung oder der sexuellen Identität sowie des Alters zu verhindern und zu beseitigen. Das AGG geht insofern über die europäischen Mindestanforderungen hinaus, als dass es einen horizontalen Ansatz verfolgt, demgemäß allen genannten Merkmalen der gleiche Rechtsschutz gewährt wird. Laut Paragraf 3 AGG schützt das Gesetz sowohl vor unmittelbarer und direkter Benachteiligung (also vor weniger günstiger Behandlung unter direkter Bezugnahme auf ein Merkmal) als auch vor mittelbarer und indirekter Benachteiligung (also nachteiligen Auswirkungen scheinbar neutraler Vorschriften oder Verfahren).

Schutz vor Diskriminierung in Wohlfahrts- und Pflegeeinrichtungen
Paragraf 9 AGG sieht eine Ausnahmeklausel für kirchliche Arbeitgeber vor, deren Dienstverhältnisse vom Diskriminierungsschutz des AGG ausgenommen sind. Dieser Regelungsbereich geht auf einen langwierigen Aushandlungsprozess mit der katholischen und der evangelischen Kirche zurück. Der Hintergrund ist folgender: Artikel 140 des Grundgesetzes gewährt den Kirchen und ihren Wohlfahrtsverbänden ein Selbstbestimmungsrecht, das ihnen ermöglicht, ihre Dienstverhältnisse autonom zu regeln. Demgemäß können kirchliche Arbeitgeber von ihren Mitarbeitern weltanschauliche Loyalität einfordern. Diese Rechtslage hat im deutschen Kontext besonders weitgreifende Auswirkungen, da die christlichen Kirchen der zweitgrößte Arbeitgeber in Deutschland sind und ihre Wohlfahrtsverbände in Bereichen wie etwa der Seniorenpflege einen Großteil der verfügbaren Dienste abdecken. 8 Auf Grundlage der europäischen Beschäftigungsrichtlinie, 9 so wurde in den 1990er Jahren befürchtet, könnten Angehörige anderer Religionen oder Personen, deren Lebensstil vom kirchlichen Ethos abweicht, eine Anstellung in Einrichtungen wie etwa Krankenhäusern, Kindergärten oder Seniorenheimen einklagen. Schon bei Verhandlungen der europäischen Gesetzgebung setzten sich die Kirchen dafür ein, dass eine Ausnahmeklausel in die Richtlinie aufgenommen wurde. Nach einer Reihe von Interventionen wurde im europäischen Gesetz verankert, dass Ungleichbehandlung zulässig ist, „wenn die Religion oder die Weltanschauung dieser Person nach der Art dieser Tätigkeiten oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt“. 10

  1. Vgl. Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29.6.2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft; Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27.11.2000 zur Festlegung des Allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf.
  2. Vgl. Pressemitteilung IP/04/947, 19.7.2004.
  3. Vgl. Pressemitteilung IP/09/1620, 29.9.2009.
  4. Vgl. exemplarisch: Ulrike Wendeling-Schröder/Axel Stein, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, München 2008.
  5. Vgl. exemplarisch: Antidiskriminierungsverband Deutschland (advd) (Hrsg.), Pressemitteilung zu 6 Jahren AGG, 17.8.2012; Türkischer Bund in Berlin-Brandenburg (Hrsg.), Viel versprochen, wenig realisiert, TBB-Positionen zu Migration-Integration-Gleichstellung im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 23.1.2014, http://tbb-berlin.de/?id_news=243 (24.2.2014).
  6. Vgl. Doris Liebscher/Alexander Klose, Vorschläge zur Novellierung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG), März 2013; Vera Egenberger, Vorschläge zur Novellierung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, WISO direkt, Februar 2014.
  7. Vgl. für einen systematischen Vergleich der Entstehung und des Inhalts des deutschen und britischen Gleichstellungsgesetzes: Aleksandra Lewicki, Social Justice through Citizenship? The Politics of Muslim Integration in Germany and Great Britain, Basingstoke 2014 (i.E.).
  8. Vgl. Caritas (Hrsg.), Statistik: Millionenfache Hilfe; Diakonie (Hrsg.), Diakonie und Entwicklung.
  9. Vgl. 2000/78/EG (Anm. 1).
  10. Ebd., Artikel 4 Absatz 2. Vgl. für eine Analyse der graduellen Erweiterung dieser Formulierung: Michał Rynkowski, The Background to the European Union Directive 2000/78/EC, in: Mark Hill (Hrsg.), Religion and Discrimination Law in the European Union, Trier 2012.
Leitartikel Politik

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  1. Rudolf sagt:

    Die Algemeinen Gleichbehandluns gesetze sind eine gute idee. Die umsetzung scheitert aber vollkommen. Ob auf der Arbeit oder vor der Diskotheken Tür scheitert es weil es nicht tief genug eingreifen kann oder bzw nicht genug eingreift. Die Diskriminierung nimmt in letzter zeit extrem zu ob durch medien oder politik es wird extrem gehetzt. Vor den Diskotheken türen kann man es deutlich erkennen wie nicht genug deutsch aussehende gäste immer noch entwürdigent behandelt werden. Die folgen durch Diskriminierung gerade im hinblick auf die jüngere genration wird gravierend sein. Diese erfahrungen die, die jugend machen muss wird lang zeit folgen beinhalten. Das thema muss mehr in die öffentlichkeit aber ich sehe da keine öffentlichkeits arbeit. seit 2006 hat sich da dran nichts geändert. Rassimus und Diskriminierung ist immer noch ein grosses bestand teil dieser Gesselschaft weil die Institute vollkommen versagen genau wie die Antidiskriminierungstellen versagen weil sie keine vernünftige arbeit leisten.

  2. Pingback: Ethnische Diskriminierung – Störfaktor im Integrationsprozess - MiGAZIN