Heuchlerisch

Gäbe es in Deutschland eine Volksabstimmung nach Schweizer Vorbild…

Die Schweiz hat gegen die "Massenzuwanderung" votiert. Die Empörung darüber ist in Deutschland groß. Bei nüchterner Betrachtung ist die Aufregung aber mindestens heuchlerisch, kommentiert Ulla Jelpke. In Deutschland...

Von Ulla Jelpke Donnerstag, 13.02.2014, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 19.02.2014, 6:52 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Mit einer knappen Mehrheit von 50,3 Prozent stimmten die Schweizer Wählerinnen und Wähler einer von der rechten „Schweizerischen Volkspartei“ (SVP) unter ihrem Chef, dem Milliardär Christoph Blocher, angeschobenen Initiative gegen vermeintliche Masseneinwanderung zu. Die „Steuerung der Zuwanderung“ ist zukünftig in der Verfassung geregelt und damit für den Gesetzgeber bindend. Die Kernpunkte: Es soll eine jährlich festgelegte Höchstzahl von zuwandernden Ausländern geben. Darin eingeschlossen sollen auch Asylsuchende sein.

Hierin dürfte die widersinnigste Regel liegen, denn es liegt in der Natur der Sache, dass sich die Zahl der Schutzsuchenden nicht kontingentieren lässt. Entweder wird die Regel also in der Praxis leer laufen, oder die Schweiz wird massiv gegen das Nicht-Zurückweisungsgebot der Genfer Flüchtlingskonvention verstoßen. Darüber hinaus sollen Schweizerinnen und Schweizer Vorrang auf dem Arbeitsmarkt haben, Ansprüche auf Aufenthalt, Familiennachzug und Sozialleistungen sollen beschränkt werden können.

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Rechtspopulistische Parteien und Politiker in ganz Europa – von der britischen Anti-EU-Partei UKIP über den niederländischen Islamhasser Geert Wilders bis zur Parteichefin der französischen Front Nationale Marine Le Pen – feiern das Schweizer Votum für nationale Abschottung als vorbildlich. In Deutschland reichte die Empörung bis hinein in die Boulevardpresse, was im wesentlichen an der unterstellten anti-deutschen Stoßrichtung der Initiative liegen dürfte. Schließlich stellen die Deutschen nach den Italienern die zweitgrößte Zuwanderergruppe in der Schweiz, hinzu kommen zahlreiche „Grenzgänger“, die in Deutschland leben und in der Schweiz arbeiten.

Bei nüchterner Betrachtung allerdings ist die Aufregung in Deutschland mindestens heuchlerisch. Zum einen wurden mit der Initiative die Grundlagen für Regelungen geschaffen, die in der Bundesrepublik ebenfalls zur Anwendung kommen: auch hier gilt ein Vorrang für Deutsche auf dem Arbeitsmarkt, der vor allem Nicht-EU-Bürger massiv ausgrenzt und für Asylsuchende zu einem faktischen Arbeitsverbot führt. Der Familiennachzug ist an den Erwerb der deutschen Sprache schon im Herkunftsland der nachziehenden Ehegatten gebunden. Sozialleistungen sind auch in Deutschland nur beschränkt EU-Bürgerinnen und -Bürgern zugänglich, bei Nicht-EU-Bürgern kann der Bezug von Sozialleistungen sogar zur Ausweisung führen.

Und eben jene Boulevardpresse, die sich derzeit über das Votum des Schweizer Souveräns echauffiert, hetzt in einem fort gegen „Armutsmigranten“ aus Ost-Europa, gegen Asylsuchende, die angeblich nur in die „sozialen Sicherungssystem einwandern“ wollen, gegen Südeuropäer, die im Rahmen der Freizügigkeit ihre kriselnden Herkunftsstaaten verlassen und neue Beschäftigungsmöglichkeiten in Deutschland suchen. Dass die Schweizer Volkspartei, die die „Initiative gegen Masseneinwanderung“ gestartet hat, ihre ausländerfeindlichen Ressentiments nicht in erster Linie gegen Deutsche richtet, sondern vor allem gegen die vermeintliche Überfremdung durch Muslime und den angeblichen Missbrauch des Asylsystems, bleibt in der hiesigen Berichterstattung vollkommen unbeachtet.

Täuschen wir uns nicht. Gäbe es in Deutschland eine Volksabstimmung nach Schweizer Vorbild, würde das Ergebnis möglicherweise nicht so viel anders ausfallen. Sicher sind nicht alle der 50,3 Prozent Schweizer, die für die Zuwanderungsbeschränkung gestimmt haben, oder diejenigen Deutschen, die mit solchen Forderungen sympathisieren, unverbesserliche Rassisten. Doch der Wohlstandschauvinismus, der sich in Forderungen nach Zuwanderungsbegrenzung und Bekämpfung von „Missbrauch“ – wahlweise der Freizügigkeit oder des Asylrechts – niederschlägt, ist letztlich doch nur eine zivilisiertere Variante eines Rassismus, dem alles „Fremde“ eine Gefahr für die eigene Identität erscheint. Die Mobilisierung von Ängsten vor Einwanderern und ihrer Kultur schwächt die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei ihrem Kampf um bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne, der nur als gemeinsamer Kampf erfolgreich sein kann. Die Grenze verläuft nicht zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft, sondern zwischen oben und unten.

Den rechten Hetzern – auch aus der Bundesregierung, die in Deutschland das Gespenst einer massiven Armutsmigration aus Bulgarien und Rumänien an die Wand malen, muss entgegengetreten werden. Ihre Demagogie muss anhand der Fakten entlarvt werden. Gegen Angstkampagnen fordern wir die Einführung und konsequente Durchsetzung von Mindestlöhnen, um berechtigten Sorgen um Lohndumping Rechnung zu tragen. Gegen die Einschränkung der Freizügigkeit müssen die freie Wahl von Wohnort und Arbeitsplatz europaweit im Rahmen des Kampfs um soziale Rechte verteidigt werden. Leitartikel Meinung

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  1. Jasmin sagt:

    Diese Abstimmung wird unschöne gesellschaftliche Folgen haben. Der „Ausländer“, der in der Schweiz lebt, ist einer von wenigen, die geduldet sind, und so wird er auch ständig angesehen. Damit geht eine Stigmatisierung einher, mit der es der Schweiz nicht besser gehen wird, als noch jeder Ausländer reinspazieren durfte. Und das schlägt sich auch auf Schweizer, die wie Ausländer aussehen. Es führt also zu mehr Segregation, Subkulturen, und im schlimmen Fall Aufständen, weil diese Ausländer ständig stigmatisiert werden.
    Wenn Demokratie ihre Werte verliert und lediglich auf Volksabstimmung degradiert wird, dann wird sie wieder ihren schlechten Ruf wie vor der Aufklärung bekommen, als Herrschaft des Pöbels…

  2. C. v. d. Ohe sagt:

    Nie würde ich Volksabstimmungen in Deutschland beführworten, solange ich weiß, dass mindestens die Hälfte der Menschen hier von Axel-Springer und Co. verstrahlt werden…

    Vorher müsste es eine Kultur geben, in der überhaupt ein interesse daran besteht auch mal Hinter die Fassade zu gucken.