Winter auch in Syrien

„Sie dürfen nicht mehr Kinder sein“

Während wir in Deutschland darüber debattieren, ob die Aufnahme von 5.000 syrischen Flüchtlingen genug ist, bricht in Syrien der Winter ein. Nasreen Ahmadi sprach mit Sahin Kotan, einem humanitären Helfer von "Kindertränen". Er war noch vor wenigen Tagen in Syrien.

Von Mittwoch, 18.12.2013, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 12.01.2014, 21:01 Uhr Lesedauer: 8 Minuten  |  

MiGAZIN: Herr Kotan, Sie waren vor wenigen Wochen noch in Syrien, um dort humanitäre Hilfe zu leisten. Bombenanschläge, Kämpfe und Sabotagen haben die Infrastruktur des Landes teilweise oder gar vollständig zerstört. Wie schwer ist es für Sie gewesen, die Menschen, die jetzt auf sehr viel Hilfe angewiesen sind, zu erreichen?

Sahin Kotan: Derzeit ist die Hilfe in Syrien nur unter hohen Risiken möglich. Neben der mangelnden Infrastruktur herrscht auch großes Misstrauen in der Bevölkerung. Die syrische Gesellschaft lebt unter andauerndem Leid, Zerstörung und einer allgegenwärtigen Todesgefahr. Aber auch die tiefen ethnischen Risse machen es nicht einfach, in dem Land voranzukommen. Die Zerstörung von Gebäuden, Brücken und Straßennetz erschweren die Erreichbarkeit und den Transport. Auf den Straßen und in den Städten zu arbeiten ist derzeit wegen des Konflikts sehr gefährlich. Menschen in den befreiten Gebieten kann man deutlich „leichter“ erreichen und die Versorgung ist dort auch im vollen Gange. Die Zahl der Flüchtlinge steigt dort jeden Tag, denn immer mehr Familien verlieren ihr Zuhause und suchen Zuflucht in den Lagern. Deshalb müssen sich täglich immer mehr Flüchtlinge die Hilfsgüter teilen und der Bedarf ist weitaus nicht gedeckt. Das syrische Flüchtlingsdrama ist damit eine große humanitäre Katastrophe. Familien, die in und nahe der umkämpften Gebieten leben nicht nur in ständiger Lebensgefahr, sie erhalten auch kaum humanitäre Hilfe. Die verarmten Familien sind dort besonders auf Nahrungsmittelhilfe und medizinische Versorgung angewiesen. Nur mit gelegentlichen Geldspenden – meistens von der eigenen verarmten Bevölkerung zusammengetragen – können sie überleben.

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Wie war das Verhalten der Nachbarländer Türkei, Libanon und Jordanien bei Ihrer Einreise nach Syrien?

Sahin Kotan ist ein humanitärer Helfer und war zuletzt im Oktober 2013 in Syrien. Insgesamt war er vier Mal für mehrere Wochen für den Verein „Kindertränen“ in den Gebieten Barisha, Rassl Hassan, Takad, Aleppo, Harem, und Aqrabat unterwegs.

Kotan: Mit der Türkei haben wir sehr gute Erfahrungen gemacht. Türkischen Soldaten, Grenzbeamten und Händler waren sehr hilfsbereit. Im Libanon und in Jordanien war ich zwar persönlich nicht, jedoch ist dort die Hilfsbereitschaft und Unterstützung seitens der Regierung und durch Beamte weitaus geringer. Nach dem 9. Hilfsgütercontainer mussten wir die Lieferung vorerst einstellen.

Sie und ein Team weiterer humanitäre Helfer waren in den vergangenen Monaten in vielen Flüchtlingscamps. Wie ist die Lebenssituation der Flüchtlinge zurzeit?

Kotan: Der Großteil der Flüchtlinge lebt unter sehr schlimmen Bedingungen in provisorischen Zeltlagern oder in Massenquartieren wie zum Beispiel Schulen. Die Lebenssituation ist immer noch sehr schlecht. Nach über 18-monatigen Hilfsarbeiten sehen wir immer noch zahllose Kinder ohne Schuhe. Der Alltag der Menschen in Syrien ist dumpf und trist. Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung haben sich breitgemacht.

Können sie den Alltag der syrischen Kinder und Jugendlichen näher beschreiben?

Kotan: Gewalt, Hunger, Angst, Flucht und damit unermessliches Leid, haben den Alltag der Kinder in den letzten zwei Jahren geprägt. Viele schutzlose Kinder, die vor den Bomben, Raketen und den Kämpfern fliehen mussten sind Waisen oder haben nahe Angehörige verloren. Die Kinder sind hochgradig traumatisiert und vollkommen auf sich allein gestellt. Traurigkeit und Wut und das Gefühl von völliger Isolation bestimmen ihren Alltag. Sie gehen nicht mehr zur Schule. Familie, Freunde, das gewohnte Umfeld und ein normales Leben fehlen ihnen. Die Kinder sind besonders gelangweilt und wissen nicht, wie sie sich beschäftigen sollen. Man sieht sie auf den Müllhalden spielen, denn in den Wohnzelten ist dafür kein Platz. Viele von ihnen müssen betteln, um zu überleben, und dürfen nicht mehr Kinder sein. In den Flüchtlingscamps gibt es auch oftmals keinen Ort, wo sie die Kriegsgeschehnisse und die Trauer für einen kurzen Moment vergessen können. In Syrien sahen wir viele Jugendliche, die tagsüber Kämpfer waren und nachts mit einem Plüschtier schlafen gingen, weil sie im Inneren einfach noch Kinder sind.

Vor welchen großen Herausforderungen steht das Team immer, wenn sie die Flüchtlingscamps erreichen?

Kindertränen e.V. ist ein humanitärer Hilfsverein aus Frankfurt am Main, eine Zusammenkunft ehrenamtlicher Helfer, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, notleidenden Menschen, die durch Kriege, Naturkatastrophen oder soziale Umstände in Not geraten sind, Hilfe zu leisten und durch Spendenaktionen zu unterstützen. Der Verein ist selbstlos tätig und verfolgt keine eigenwirtschaftliche Zwecke. Nach Syrien konnte Kindertränen bis jetzt 11 Krankenwagen ca. 7 Tonnen Medikamente, OP Material, med. Geräte, Gehhilfen, Rollstühle, Kleider und 70 Tonnen Lebensmitteln verschicken. Über 100 Heizöfen und 20 Tonnen Heizmaterial sowie dutzende Matratzen und Bettdecken konnte der Verein ebenfalls zusammen bekommen.

Kotan: Jedes Mal wenn wir in ein Flüchtlingslager ankommen, ist es sehr schwierig, sich einen guten Überblick über das Lager zu verschaffen, und trotz des großen Ansturms Ruhe zu bewahren. Damit alles fair abläuft, sammeln wir in den ersten Tagen erst mal alle Namen der Bewohner. Diese Arbeit ist sehr mühselig aber notwendig, damit wir die Hilfspakete individuell an die Familien anpassen können. Es ist aber unglaublich schwer, die richtige Auswahl zu treffen, weil es an allen Ecken und Enden fehlt.

Die Zivilbevölkerung in Syrien ist auf humanitäre Hilfe angewiesen. Was brauchen die Menschen am dringendsten und in welchen Lebensbereichen besteht besonderer Handlungsbedarf?

Kotan: Besonders hoher Handlungsbedarf besteht bei der medizinischen Versorgung. Das hat zum einen mit zunehmenden chronischen Leiden zu tun. Diabetes, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen werden immer häufiger diagnostiziert, doch Arzneimittel für die Behandlungen fehlen überall. Eine finanziell aufwendige Behandlung und der Zugang zu einer qualitativ hochwertigen medizinischen Versorgung gibt es schon lange nicht mehr, insbesondere für Menschen, die außerhalb der Camps leben müssen. Kriegsverletzungen können nicht behandelt werden und die Menschen tragen große körperliche Schäden davon, die man vielleicht hätte verhindern können. Auch psychische Krankheiten und post-traumatische Störungen müssen dringend behandelt werden. Besonders die Kinder haben große seelische Wunden in sich. Diese Traumata des Krieges müssen aufgearbeitet werden. Neben der Verbesserung der medizinischen Lage brauchen die Menschen aber auch materielle Sachen. Eigentlich fehlt es an allem, denn die Wirtschaft des Landes funktioniert nicht mehr. Viele Fabriken wurden bei den Kämpfen zerstört, andere wurden niedergebrannt oder werden noch als Stützpunkt benutzt. Ein großer Teil der Produktionsstätten kann wegen der schlechten Sicherheitslage gar nicht mehr angefahren werden. Ausland Interview Leitartikel

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  1. Edith Hofmann sagt:

    Könnten Sie zum Beispiel nicht mehr gebrauchte Herzmedikamente (hoher Blutdruck, eingeschweisst, nicht abgelaufen brauchen? Wohin schicken oder bringen? Es fehlt mir überhaupt eine Adresse, auch für Spenden?

  2. Pingback: “Sie dürfen nicht mehr Kinder sein” | Nasreen Ahmadi